Es macht nicht immer Sinn, Hamburgs Bürger über einzelne Entscheidungen abstimmen zu lassen. Dafür wählen wir doch unsere Politiker.

Manfred Brandt vom Hamburger Landesverband Mehr Demokratie ist sicher überzeugt von dem, was er sagt. Eine größere Mitwirkung von Bürgern bei politischen Entscheidungen liegt ihm wohl wirklich am Herzen. Er handelt also in bester Absicht. Ich meine trotzdem, dass er unserem Gemeinwesen und mir als dessen Einwohner einen Bärendienst erweist.

Sein Verband und er kämpfen für die direkte Demokratie und wollen, dass wir Bürger über mehr Anliegen unmittelbar selbst entscheiden und abstimmen können. Unter der vereinfachenden Überschrift „Mehr Demokratie“ klingt das so, als müsse man sein Anliegen gut finden – wer wäre für weniger Demokratie? Aber wie das so ist mit Wölfen im Schafspelz: Mehr direkte Demokratie heißt nicht notwendigerweise tatsächlich mehr Demokratie.

So haben Volksabstimmungen zahlreiche Nachteile: Man kann nur einfach gestrickte Fragen („Sind Sie für oder gegen die Seilbahn?“) zur Abstimmung stellen. Die Beteiligung derer, die unmittelbar (negativ) betroffen sind, ist immer größer als die große Zahl der potenziell positiv Gestimmten. Das hat der Ökonom Mancur Olson herausgefunden: Nicht große Gruppen sind gut organisierbar, sondern kleine und sehr spezifisch ausgerichtete Interessen.

Es wird deshalb leichter sein, 1800 Olympiagegner in Hamburg zu mobilisieren, die alle sehr gegen Olympia sind, als 1,8 Millionen Befürworter, die Olympia im Prinzip klasse finden, aber sich zur Stimmabgabe an einem sonnigen Sonntag doch nicht aufraffen.

Ein weiteres Problem stellt sich bei der Frage, wer eigentlich abstimmen darf: Über die Seilbahn hätte ich gerne mit abgestimmt, weil ich sie für Hamburg (meine Stadt!) eine echte Attraktion gefunden hätte – ich wohne aber leider nicht im Bezirk Hamburg-Mitte. Über Olympia stimmen nur die Hamburger ab, aber wäre es nicht auch gerecht, die Pinneberger, Norderstedter und Buchholzer im Umland zu fragen? Oder vielleicht sogar alle Deutschen? Die Einführung mehr direktdemokratischer Elemente zwingt mich zudem, wenn ich meinen Bürgersinn ernst nehme, mich mit den zur Abstimmung stehenden Themen intensiv auseinanderzusetzen. Das bevorzugt Menschen, die dafür Zeit haben und aufgrund ihres Bildungsgrads in der Lage sind, die Themen zu durchdringen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat gezeigt, dass der typische Stuttgart-21-Gegner ein Ingenieur im Vorruhestand ist, rechtschaffener Häuslebesitzer und selbst ernannter Experte für tiefere Gesteinsschichten.

Mir ist es wesentlich lieber, politische Entscheidungen – und gerade die von großer Tragweite – von den Experten treffen zu lassen, die ich dafür gewählt habe. Arbeitsteilung und Spezialisierung sind großartige Erfindungen und Quelle unseres Wohlstands: Der Bäcker kann so viel besser backen als ich, der Architekt viel besser und stabiler bauen als ich und mein Abgeordneter über politische Fragen viel besser entscheiden als ich. Kein Wunder, darauf hat er sich ja spezialisiert.

Als berufstätiger Familienvater bin ich froh, dass es im Rathaus und den Bezirken Profis gibt, die sich mit den vielen Themen auskennen, die entschieden werden müssen: ein Zebrastreifen, ein Gewerbegebiet, eine Olympiabewerbung. Sie arbeiten sich in die Details ein, hören Experten an, gleichen Interessen aus und finden Kompromisse. Das gibt mir die Gewissheit, dass Politik gut gemacht wird – auch wenn mir nicht jedes Ergebnis im Detail passen mag.

Das Wichtigste aber: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz ist gewählt, und man kann ihn wieder abwählen. Manfred Brandt ist nicht gewählt, man kann ihn nicht abwählen. Er sitzt in seiner Baumkrone, lächelt und weiß, dass sich niemand offen gegen seine Initiative stellen kann, weil man sich dem Verdacht aussetzen würde, man sei gegen mehr Demokratie. Ich bin für mehr parlamentarische, repräsentative Demokratie, würde mich immer für mehr gute (und gut bezahlte) Politiker aussprechen und freue mich, dass so viele Erstwähler in Hamburg von ihrem Wahlrecht aktiv Gebrauch gemacht haben.

Wer mehr Demokratie will, muss den Mut haben, die Schwächen der direkten Demokratie zu benennen und dem Parlamentarismus den Rücken stärken.