Die Ausstände der Lokomotivführer und der Erzieher drohen etwas Zentrales zu verspielen: die Sympathien in der Bevölkerung

Matthias Iken

Schade, dass Kolumnisten so selten streiken. Es gäbe so viele Gründe – man könnte mehr Leserbriefe erstreiten und darin etwas mehr Höflichkeit. Mehr Geld für alle wäre auch nicht schlecht. Oder wenigstens einen freien Sonntag – dann müsste man nicht derlei Zeilen schreiben, sondern könnte dem ruhmreichen FC St. Pauli beim Siegen zusehen. Stattdessen sitzt man im Kontor und muss über den Streik philosophieren. Gefühlt werden wir Deutschen immer italienischer: Wir ernähren uns von Nudeln und Pizza, zahlen mit einer Weichwährung und irgendwo wird gerade immer gestreikt.

Das Streikrecht wird durch die Koalitions- und Vereinigungsfreiheit im Grundgesetz garantiert – und nur ziemliche Heißdüsen kämen auf die Idee, daran groß etwas zu ändern. Auch wer zwischen GDL-Ausstand, Post-Warnstreiks und Kita-Schließungen derzeit etwas den Überblick verliert – insgesamt ist Deutschland noch immer ein eher ruhiges Plätzchen. Größere Ausstände kommen selten vor. Und wenn gestreikt wird, ziehen alle hässliche Plastiksäcke über, greifen zu Trillerpfeifen und beachten gewissenhaft die Gesetze; da geht es beispielsweise in Frankreich deutlich feuriger zu.

Allerdings haben gleich zwei Streiks der vergangenen Woche das Verständnis der Deutschen strapaziert. Der dickköpfige Oberlokomotivführer Claus Weselsky hat seiner Sache mehr geschadet als sie zu befördern. Er erinnert an ein bockiges Trotzkind in der Sandkiste, dem man die Schaufel weggenommen hat und der nun so lange schreit und streikt, bis er seinen Willen bekommt. Verständnis für die Lokführer? Der Zug ist längst abgefahren.

Gleiches riskieren die Kita-Beschäftigten. Nun ist Konsens, dass diese Menschen einen enorm wichtigen Job machen, der in den vergangenen Jahren mit immer neuen Anforderungen verknüpft wurde. Fakt ist aber auch, dass die Streikfreude und der gesellschaftliche Rückenwind den Kita-Mitarbeitern in den vergangenen Jahren deutliche Zuschläge gebracht haben, die weit über dem Durchschnitt lagen. All das sei ihnen gegönnt. Aber die aktuellen Forderungen der GEW und Ver.di haben das Potenzial, so argwöhnen die Arbeitgeber, das Gehaltsgefüge im gesamten Öffentlichen Dienst substanziell und millionenschwer zu verschieben.

Auch unter den Eltern schmilzt derzeit die Unterstützung für die streikenden Erzieher in den Kitas schneller als ein Eis in der Hand eines Dreijährigen. Weder einigten sich die Kitas und die Gewerkschaften auf eine Notdienstvereinbarung, noch wissen viele Eltern genau, wann und ob ihre Einrichtung bestreikt wird. Weil bis zu 95 Prozent der Eltern in den Kitas laut der Kita-Vereinigung Elbkinder berufstätig sind, werden Väter und Mütter an den Rand gestreikt. Die Glücklichen haben Großeltern, die einspringen, die weniger Glücklichen müssen sich teure Babysitter organisieren oder den Jahresurlaub peu a peu für die Streikenden opfern. Bei allem Verständnis für die Erzieher; auch die Eltern von Kleinkindern, die zum Wohle der Gesellschaft unter enormen Anstrengungen Kindererziehung und Job unter einen Hut bringen, dürfen auf Verständnis und Solidarität hoffen. Der Streik der Kita-Erzieher ist ein asymmetrischer Ausstand – er trifft eben nicht die Arbeitgeber, sondern eine unbeteiligte Gruppe, und diese massiv. Wenn bei VW die Bänder still stehen, ist das bitter für Volkswagen, wenn die Postboten streiken, schmälert das zuerst das Geschäft des Konzerns. Natürlich muss ein Streik weh tun – dieser aber tut den Kommunen überhaupt nicht weh – ganz im Gegenteil. Einige behalten die Kita-Gebühren ein, sparen aber die Gehälter für die Erzieher. Die sind übrigens gar nicht mehr so beschämend niedrig: Ein Berufseinsteiger verdient 2478 Euro monatlich und steigt nach 21 Jahren auf bis zu 3319 Euro, rechnet der Hamburger Kita-Träger vor. Und der Paritätische Wohlfahrtsverband meldete kürzlich: „So viele Menschen wie noch nie befanden sich im Schuljahr 2014/15 in der Erzieherausbildung an den staatlichen Fachschulen in Hamburg.“

Bei jedem Streik geht es auch um die Sympathien der Öffentlichkeit und um gegenseitige Solidarität – Ver.di und GEW sollten die Fehler der GDL nicht wiederholen.