Am Donnerstag wählt das Vereinigte Königreich ein neues Parlament – und steht vor schweren Fragen
Die Geschichte kennt viele Beispiele von mächtigen Weltreichen, die schließlich an Ermattung, Überdehnung, inneren Widersprüchen und aus weiteren Ursachen zusammenbrachen. Fast niemals gelang die Rückkehr zur Großmacht; China könnte eine dieser Ausnahmen sein. Fast immer gilt die alte Boxerweisheit „They never come back“. Das Britische Empire, direkter Vorläufer des Amerikanischen Imperiums, war einst das größte Kolonialreich der Geschichte und umfasste zu seinen Hochzeiten ein Viertel der Landfläche der Erde und auch ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung.
Geblieben ist im Wesentlichen nur der Kern dieses Giganten – ein Land, kleiner als die Fläche der alten Bundesrepublik; eine Mittelmacht, wenn auch mit Atombewaffnung: Großbritannien.
Bis heute leidet das Land nicht nur am Phantomschmerz des verblichenen Empires. Vor allem sind die politischen Strukturen des Vereinigten, aber keineswegs einigen Königreiches in vielerlei Hinsicht noch dieselben wie damals – und dringend reformbedürftig. Das gilt für das soziale Gefälle, das weitaus steiler ist als im Rest Europas, ebenso wie für das Verhältnis zwischen Engländern, Schotten, Nordiren und Walisern, das dringend neu definiert und organisiert werden muss, bevor die sozialen Unwuchten und die Zentrifugalkräfte weg vom Zentrum Westminster die britische Union zerreißen.
Und es muss die Grundsatzfrage beantwortet werden, ob Großbritannien isoliert sein soll, eine Inselfiliale der USA, wie es viele Konservative schätzen, oder ob sich das europäische Land nicht doch politisch und strukturell klar zu Europa bekennen sollte, wo es hingehört. Auf Dauer ist allerdings die britische Neigung, die Vorzüge EU-Europas einheimsen und unangenehme Verpflichtungen durch egoistische Sonderregelungen entschärfen zu wollen, auch für die EU nicht tragbar.
Ein Austritt der Briten aus der Europäischen Union könnte durchaus die Folge eines von Premier David Cameron angekündigten Referendums sein, das noch vor 2017 stattfinden soll. Es ist ein Reflex, der auch in anderen Staaten der EU zu besichtigen ist: Es ist weitaus bequemer, die Schuld für die eigene Misere auf den vermeintlichen Moloch in Brüssel zu schieben, als schmerzhafter Selbstanalyse schmerzhafte Reformen folgen zu lassen. Im vergangenen Jahr verzeichnete die britische Wirtschaft ein kräftiges Wachstum. Erkauft wurde es mit einem harten Sparkurs zulasten unterer Schichten – was die Schere zwischen Arm und Reich nicht gerade geschlossen hat. Erkauft wurde es auch mit einer weiteren Steigerung der Gesamtverschuldung, die mittlerweile bei mehr als 250 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen dürfte. Solidität sieht anders aus.
Die europafeindliche Partei Ukip und die sozialdemokratische Labour-Opposition treiben die liberalkonservative Regierung vor sich her; die eine in Sachen Europa, die andere in punkto Sozialpolitik. Ein Austritt der Briten wäre vermutlich ein Desaster für die britische Wirtschaft und den Finanzplatz London. Er könnte als fatales Signal wirken, die EU wie einen Pullover aufzuribbeln und einen karolingischen Kern in der Mitte Europas übrig zu lassen. Für die USA könnte sich die Frage stellen, ob ein so verzagtes und isoliertes Land der richtige Partner in Europa ist. Anders als in früheren Jahrzehnten haben die Briten an den Versuchen der Krisenbewältigung von EU und USA längst keinen großen Anteil mehr.
Es wäre eine Überraschung, wenn die Wahl angesichts des Patts zwischen Tories und Labour sowie der schwer kalkulierbaren Machtfaktoren Ukip, Grüne, schottische SNP und nordirische DUP auf Anhieb stabile Verhältnisse schaffen würde.