Wir schimpfen auf die Politik, weil sie bei der Rettung der Flüchtlinge versagt. Dabei ist unser Lebensstil mit eine Fluchtursache.
Am Dienstagabend begann Thomas de Maizière mir leidzutun. Was der Bundesinnenminister an Breitseiten aus Politik und Medien einstecken musste, überschritt das Maß der Angemessenheit und der Fairness. Im Fernsehen musste sich der CDU-Politiker verhören lassen, als sei er persönlich verantwortlich für das Sterben im Mittelmeer. In eigentlich seriösen Onlinemedien kommentieren Journalisten: „Mit ihrer Abschottung tötet die Europäische Union vorsätzlich.“ Und in eigentlich seriösen Zeitungen heißt es, „die Kaltschnäuzigkeit des Innenministers verschlägt einem den Atem“.
Bei allem Verständnis für die Wut angesichts der verstörenden Bilder, die Empathie für die Opfer und die Hilflosigkeit als Beobachter. Hier ist Mäßigung angebracht – und Selbstkritik. Wo waren denn die großen Mediengeschichten vor dem Desaster? Die Empörung danach vom weichen Bürosessel aus kann schnell wohlfeil wirken, während Politiker immer an den Folgen ihrer Entscheidungen gemessen werden.
Was gestern als richtig galt, kann morgen katastrophal falsch sein. Das gilt im Übrigen auch für Kommentare, nur dass hier das Geschwätz von gestern anders als Politikersätze nur selten aus dem Archiv hervorgekramt werden.
So ergeht es nun de Maizière, dem halb belehrend, halb verachtend alte Positionen vorgehalten werden, mit denen er einst das EU-Seenotrettungsprogramm abgelehnt hatte. Natürlich erleichtern große Hilfsaktionen Schleppern deren schmutziges Geschäft – doch die Abwägung des Für und Wider ergibt heute, eingedenk der erschütternden Nachrichten aus dem Mittelmeer, eben ein anderes Ergebnis als einige Tage zuvor. Die eher besonnene Grünen-Politikerin Kathrin Göring-Eckart schert das wenig. Sie hat dem Bundesinnenminister nun vorgeworfen, „leichtfertig hinzunehmen, dass Hunderte Menschen im Mittelmeer sterben“. Puh.
Das Drama auf dem Mittelmeer dreht die Scheinwerfer auf die Fluchtursachen, die immer mehr Verzweifelte nach Europa treibt. Zu Recht ist die Rede von Fehlentscheidungen der Nato und falschen Kriegen der USA und Großbritannien. Die Angriffe auf den Irak und Libyen sollten die Welt besser und sicherer machen, erreicht haben sie das Gegenteil. Eine kleine Randnotiz: Als Guido Westerwelle sich im Uno-Sicherheitsrat im März 2011 bei der Resolution zu Libyen enthielt, wurde er mit Schimpf und Spott überhäuft.
Auch ansonsten ist Empörung allein über die anderen oder die Politik, vielleicht auch das System oder den Kapitalismus als Urheber alles Bösen, etwas zu kurz gedacht. Die Schurken in dem Flüchtlingsdrama sind nicht die Politiker des Westens, sondern in erster Linie afrikanische Despoten, Islamisten, kriminelle Banden. Viele afrikanische Staaten scheitern an ihren korrupten Machteliten und den archaischen Strukturen. Doch auf der Anklagebank sitzen nicht immer die anderen, sondern auch wir. Es ist eben auch unser Lebensstil, der eine Fluchtursache schafft. Umweltschützer kritisieren seit Langem, dass die großen EU-Trawler afrikanischen Fischern die Lebensgrundlage entziehen. Tatsächlich hat die Überfischung gerade vor der afrikanischen Küste noch zugenommen, die EU-Landwirtschaftspolitik wirkt sich fatal aus. Unsere „Geiz ist geil“-Mentalität verschärft das Problem.
Erinnern wir uns: Vor zwei Jahren stürzte die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch ein. Damals starben über 1100 Menschen, und für einige Tage war die Empörung groß. Vorbei. Nachhaltige Veränderungen in der Textilbranche sind bislang ausgeblieben, auch weil die Kunden andere Prioritäten setzen. Wir schreien vor Glück, wenn’s billig, bunt und hip ist, fragen aber nicht nach, wie viel Geld eigentlich die Näher bekommen oder wie sie produzieren müssen. Zwar wächst der gerechte Handel stetig, führt aber immer noch ein Nischendasein. Öko ist uns furchtbar wichtig, weil wir glauben, der biologische Anbau ist gesünder. Beim Kaffee, bei Saft oder Schokolade interessiert uns vor allem der Preis. Und der soll gefälligst günstig sein.
Es ist einfach, auf die anderen zu zeigen und die Schuld zu delegieren – am besten an die Politik. Aber ganz so simpel ist die Welt nicht.