Wir müssen den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer helfen. Wo bleibt Europas Flotte der Humanität?

Ein Flugzeug stürzt ab, 150 Menschen sterben, offenbar ein Amoklauf des Co-Piloten. Eine schreckliche Tragödie, Fernsehsender berichten live, Zeitungsredaktionen verfassen lange Dossiers. Zu Recht!

Ein Schiff treibt ziellos auf dem Meer, kentert in den Wellen, Menschen ertrinken. Hunderte. Doch für fast alle Fernsehsender und Zeitungen gibt es an diesem Tag andere Themen. Der Außenminister-Gipfel, Vorratsdatenspeicherung, ein gescheiterter Fußballtrainer. Über das erneute Schiffsunglück vor der Küste Libyens berichten die meisten Medien eher in den Randspalten der Nachrichten.

Erst am Tag danach tränen die Augen vom Wegschauen.

Es heißt immer, dass man Opfer mit Opfern nicht vergleichen soll. Dass niemand den Wert eines Lebens messen soll. Wie wahr! Aber vergleichen wir Europäer den Wert von Leben und Tod nicht allein dadurch, dass wir über ein Flugzeugunglück tagelang reden und schreiben – und die Nachricht von Hunderten Ertrunkenen im Meer lesen wie eine Meldung über Reformen im Gesundheitswesen oder Präsidentenwahl in Thailand?

Und doch: Die bloße Kritik an Medien und Menschen greift zu kurz. Über kaum ein Thema haben Zeitungen, Fernsehen, Onlineportale und Blogs mehr berichtet und gestritten als die Flüchtlingspolitik. Auch über die Unglücke im Mittelmeer berichten Medien. Die brutalen Dimensionen der Katastrophe bleiben hinter den einzelnen Meldungen dennoch verborgen: 3500 Menschen starben 2014 in den Fluten des Mittelmeeres. 2015 sind es schon mehr als 800, und die Saison, in der das Meer ruhiger ist und Flüchtlingsboote aufbrechen, fängt erst an.

Ein Teil der Tragödie ist, dass die Tragödie vermeidbar ist. Zumindest in dieser Dimension. Die EU muss die italienische Operation „Mare Nostrum“ zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge wieder finanzieren. Sie wurde im vergangenen Jahr eingestellt und durch eine Operation ersetzt, die auf Küstenschutz setzt. Gebracht hat die Abschottung nichts.

Europa ist ein Kontinent, der für Frieden steht. Das Mittelmeer aber ist weltweit die gefährlichste Grenze zwischen Ländern, die im Frieden mitein­ander leben. Ob die fliehenden Menschen in Europa bleiben dürfen, entscheiden Asylgesetze. Jeder, der hier ankommt, muss durch ein Asylverfahren. Doch ertrinken lassen dürfen wir die Menschen nicht. Wo bleibt Europas Flotte für Humanität?

Flucht ist eine lebensgefährliche Situation für die Menschen, die ihr Zuhause verlassen. Flucht ist aber auch eine Herausforderung für Politik und Menschen in Europa. Zu langsam wächst in der EU die Einsicht, dass die Kriege in Nahost und Afrika nicht übermorgen wieder enden und die Flüchtlinge wieder zurück in ihre Heimat können. Eine gute Flüchtlingspolitik muss deshalb auf einer Strategie fußen, die den ankommenden Menschen nach ihrer Flucht Chancen auf ein Leben im Gastland ermöglicht – auch um Konflikte zu vermeiden.

Oftmals agieren Bürger planvoller und zielstrebiger als die Politik. Nachbarn helfen mit Sprachkursen oder sammeln Kleidung. Firmen wissen, dass Flüchtlinge trotz längerer Zeit in Deutschland keinen Schulabschluss haben – aber sie erkennen dafür ihren Ehrgeiz und ihr Geschick. Erst langsam reagiert die Politik, erleichtert Anerkennung von Abschlüssen, schafft mehr Rechte für anerkannte Flüchtlinge auf Arbeit und Wohnen. Eine Willkommenskultur lebt nicht von heute auf morgen auf. Doch wenn Menschen im Meer ertrinken, darf die EU nicht erst Wochen debattieren. Dann muss sie entschlossen helfen.