Der Absturz der Germanwings-Maschine zeigt die Grenzen unserer Zivilisation

Kaum ein Künstler hat das Entsetzen und die Verzweiflung des modernen Menschen so expressiv zum Ausdruck gebracht wie der Norweger Edvard Munch mit seinem Gemälde „Der Schrei“. Den Mund weit geöffnet, die Augen leer und die Hände fassungslos an den Kopf gelegt – ein Bild, das mehr erzählt, als Sprache es vermag.

Auch nach dem Flugzeugabsturz über den Seealpen mit 150 Toten können Worte nicht fassen, was die Angehörigen und Freunde der Opfer jetzt fühlen. Was uns alle verbindet, ist jener stumme Schrei, das blanke Entsetzen und die Frage: Warum?

Warum mussten so viele Menschen so jäh aus dem Leben gerissen werden? Damit ist nicht die technische Frage gemeint, die Experten möglichst bald zu klären haben. Es geht vielmehr um die existenzielle Frage nach dem „Sinn“ solcher Unglücke. Die Katastrophe zeigt auf jeden Fall eines: die tödlichen Grenzen der modernen Zivilisation.

Was in der digital revolutionierten Welt häufig aus dem Blick gerät, sind die Grundkonstanten des Lebens wie Angst, Trauer und Tod. So sehr die Technisierung des Alltags voranschreitet und der Mensch glaubt, alles im Griff zu haben, so radikal zeigt die Flugzeugkatastrophe die Macht des Schicksals, das gnadenlos jeden treffen kann. Im Mittelalter war es die Pest, heute ist es nicht zuletzt die gesteigerte Mobilität. Wie eh und je bleibt der Mensch aber ins Dasein geworfen (Martin Heidegger); ungefragt ist er zum Leben und zum Tode verurteilt. Weil es diese Grenzen gibt und tausenderlei Zufälle die Lebensläufe prägen, ist der Mensch darum bemüht, sein Leben zu deuten, das Schicksal zu interpretieren und dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen.

An dieser Stelle steht das Einfallstor der Religion. Sie bietet mit dem Glauben an eine höhere Macht Sinnperspektive in der vielfach erfahrenen Sinnlosigkeit an. Vor allem die Per­spektive des Weiterlebens nach dem Tod und die Hoffnung, dass Menschen einander „im Himmel“ wiedersehen, kann tatsächlich tröstliches Potenzial entfalten. Wenn Politiker sagen, dass sie im Gebet bei den Angehörigen der Unfallopfer sind, ist das keine bloße Betroffenheitsrhetorik, sondern Ausdruck einer lebendigen Zivilreligion.

Gerade in kollektiven Krisenzeiten wie nach Unglücken und Terroranschlägen kommt es in demokratischen Staaten mit abendländischen Traditionen zu einer Symbiose von Religion und staatlicher Obrigkeit. Die Gedenkgottesdienste für die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten waren ein Beispiel für zivilreligiös gestaltete Trauer. Auch nach dem Absturz über den Alpen gab es Andachten in Kirchen, an denen Vertreter der Kommunen teilgenommen haben.

Die Repräsentanten des Staates wie Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier leben nach diesem Unglück etwas vor, was in den Religionen tief verankert ist: Sie zeigen Mitgefühl und verkörpern mit Wort und Tat zivilreligiöse Beistandsmoral. Denn in der Gemeinschaft lassen sich schreckliche Unglücke leichter ertragen, wusste schon Hiob im Alten Testament der Bibel.

Warum diese Menschen nun sterben mussten – darauf wird es keine Antwort geben. Die Angehörigen müssen nun in einem lebenslangen Prozess leidvoller Erfahrung selbst lernen, neuen Sinn für ihr eigenes Leben zu finden. Erst dann wächst wohl Hoffnung auf ein Weiterleben.

Im Song „Geboren um zu leben“ der Musikgruppe „Unheilig“ heißt es:

„ Wir war’n geboren um zu leben / Für den einen Augenblick / Bei dem jeder von uns spürte / Wie wertvoll Leben ist.“ Die Katastrophe mit 150 Toten zeigt genau das: Wie wertvoll – und zerbrechlich – unser Leben ist.