Putin sehnt sich nach einem großrussischen Reich. Der Westen steckt im Dilemma
Zu den stärksten Triebkräften aller Imperien von den Assyrern über Ägypter, Griechen, Römer, Perser oder Briten bis hin zur globalen Dominanz der USA im 20. Jahrhundert zählte die tiefe Überzeugung, Vertreter einer überlegenen Kultur und Zivilisation zu sein. Die Antwort des einst stolzen, im Verfall der Sowjetunion tief gedemütigten Russland auf den amerikanischen „Exzeptionalismus“ ist Wladimir Putins Konzept einer dem Westen moralisch weit überlegenen russischen Zivilisation. Das Besinnen auf diese einzigartige russische Kultur spielt eine erhebliche Rolle in dem sich täglich zuspitzenden Ukraine-Konflikt.
Die Ukraine, namentlich jenes Gebiet um ihre Hauptstadt, das einst als Kiewer Rus Keimzelle der russischen Reiche war, gilt Wladimir Putin als heilige Erde. Das Bedenkliche ist, dass sich der moderne Zar den rüden Methoden des 19. Jahrhunderts bedient, um sein Ziel, die Errichtung eines großrussischen Reiches als einer der stärksten Machtpole der Erde, zu erreichen. Es scheint, als wolle Putin eine Sowjetunion 2.0 schaffen – doch er ist alles andere als ein Kommunist; ihm geht es vielmehr um eine schlagkräftige Kombination von Nationalismus und Orthodoxie. Die unter den Stalinisten verfolgte russische Kirche spielt für Putins Imperium eine zentrale Rolle.
Es ist nicht zuletzt jener Glaube an die Überlegenheit der eigenen Kultur, ein russischer Exzeptionalismus, der den Moskauer Präsidenten so immun gegen die Proteste aus dem Westen macht. Putins geradezu missionarischer Eifer, russische Erde einzusammeln – und dies auch jenseits der derzeitigen Grenzen Russlands – ist offenbar weit stärker ausgeprägt als seine Bereitschaft, internationale Gesetze zu respektieren.
Den Westen bringt dies in ein bitteres Dilemma. Einerseits muss der Kreml in die Schranken gewiesen werden, andererseits ist eine militärische Lösung undenkbar. Die Nato kann und sollte nicht Krieg um die Ukraine führen. Das Land gehört weder Nato noch EU an und zeichnete sich auch vor der russischen Annexion der Krim nicht gerade durch ein stabiles politisches System, Toleranz und Korruptionsfreiheit aus. Man kann nur heilfroh sein, dass die Bestrebungen einiger Politiker in Kiew und Washington, die Ukraine in die Allianz zu holen, bereits im Embryonalstadium verblichen sind.
Die aktuelle Nachrichtenlage von der Front ist unübersichtlich; man kann Verlautbarungen der russischen Regierung gar nicht und der ukrainischen nur sehr bedingt vertrauen. Als gesichert kann gelten, dass Moskau die prorussischen Separatisten mit Waffen, Ausrüstung, Militärberatern und Sabotagetrupps unterstützt. Doch sollten sich Alarmmeldungen als zutreffend erweisen, dass reguläre russische Truppen in Brigadestärke die Grenze überschritten haben, dann geriete der Konflikt auf eine neue, äußerst gefährliche Eskalationsstufe. Wieder treten Parallelen zum Juli 1914 zutage, als die Gegnerstaaten wie Schlafwandler in die Apokalypse taumelten, die niemand so gewollt hatte. Und wieder zerschellen diplomatische Bemühungen an dumpfer Egomanie.
Fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges führt ein autoritärer Herrscher mitten in Europa wieder einen Angriffs- und Eroberungskrieg. Im Baltikum und in Polen geht die Angst um. Auf unserem Kontinent stehen die höchsten Errungenschaften wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit und unverletzliche Staatsgrenzen auf dem Spiel. Die Zeit für Nadelstich-Sanktionen geht zu Ende; in Brüssel und Washington sollten nun wirklich wirksame ökonomische und finanzielle Sanktionen angeschoben werden. Als Lehre aus dem Jahre 1914 gilt es aber, Putins imperiale Raubzüge mit politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Mitteln zu stoppen.