Häufig wird Religion von Gewalttätern missbraucht – der Tibeter zeigt einen anderen Weg
Religionen sind für vieles gut. Sie können trösten, helfen, heilen, Hoffnungen wecken. Zugleich können sie aber Ängste schüren, mit der Hölle drohen, Tod und Vernichtung bringen. Mit dem Besuch des 14. Dalai Lama auf der einen und dem islamistischen Terror der IS-Milizen im Irak auf der anderen Seite wird die Ambivalenz des Religiösen deutlich: Islam, Buddhismus, Christentum, Hinduismus und Judentum stehen einerseits für gelebte Menschlichkeit und die zivilisatorische Kraft von Glauben und Gebeten. Anderseits aber stehen dieselben religiösen Systeme in der Gefahr, von Extremisten für partikulare Interessen missbraucht zu werden.
Der Dalai Lama, Friedensnobelpreisträger von 1989, ist ein Lehrer des Mitgefühls mit allen Kreaturen, der aus den Quellen buddhistischer Weisheitstraditionen lebt. Bei ihm erweist es sich, dass die Religionen einen Beitrag zum Weltfrieden und zur Menschlichkeit leisten können. Die Dschihadisten im Irak dagegen berufen sich auf den Koran und die Scharia. Doch ihnen geht es in keiner Weise um Allahs Sache, sondern um materiellen Besitz und das perverse Ausleben ihrer Machtfantasien. Und um die Lust am Morden. Das alles zieht junge kriminelle Männer aus Europa, die offenbar zu den Wohlstandsverlierern gehören, zu den militanten Horden des „Islamischen Staates“. Unter der Maske eines kruden Gottesbildes wütet das Böse – der Mensch mit seinem tiefen Abgrund, den die Religionen zu Recht als Sünde bezeichnen.
Dass es beim Missbrauch von Religionen eigentlich um materielle Ressourcen geht, zeigt auch die Geschichte des Christentums. Die Eroberung und Ausbeutung Süd- und Mittelamerikas durch die spanische Conquista im 16. Jahrhundert erfolgte mit dem Segen der römisch-katholischen Kirche, die von den blutigen Beutezügen in hohem Maße mit Gold und Grundstücken profitierte. Der Missionsbefehl Jesu, Menschen für den Glauben an Gott zu gewinnen, wurde für pure Machtgelüste und Materielles missbraucht.
Von anderem Kaliber sind die Selbstmordattentäter der al-Qaida. Ihnen geht es nicht um weltliche Dinge, sondern allenfalls um die versprochenen Jungfrauen im Paradies. Geleitet werden aber auch sie von einem missbrauchten Gottesbild, das ihren muslimischen Glauben absolut setzt. Wer nicht wie die Attentäter an ihren Gott Allah glaubt, ist ein Feind und muss vernichtet werden. Psychologen haben nachgewiesen, dass die Attentäter als depressive Persönlichkeiten sich von Gott gedemütigt fühlen: Weil Allah für sie so unerreichbar groß ist, wollen sie mit ihrem Tod seine Gnade erwirken.
Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann hat gezeigt, welches Gewaltpotenzial ein absolutistisches Gottesbild entfalten kann, das die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Feinde und Freunde, wahre und falsche Religion einteilt. Seine These: Erst der Monotheismus, den Mose mit seinen Zehn Geboten verkörpert, brachte Gewalt unter die Religionen.
Der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, hat mit 79 Jahren längst den Gipfel auf dem Mount Everest des Religiösen erreicht. Bei seinen Vorträgen in Hamburg wird er eine Ethik entfalten, die gar nicht religiös missbraucht werden kann. Weil sie die Grenzen aller Religionen sprengt und keinen Gottesglauben mehr absolut setzt. Hier gibt es weder Gläubige noch Ungläubige, weder Freunde noch Feinde.
Mit dieser „säkularen Ethik“ will der Buddhist sogar jene Menschen erreichen, die sich nicht als religiös verstehen. Damit leistet der Dalai Lama einen wichtigen Beitrag zur globalen Kultur des Mitgefühls. Und die ist nötiger denn je. Denn wie dünn die Decke unserer Zivilisation ist, gemahnen in diesen Tagen die Toten in der Ukraine, im Nahen Osten, Syrien und im Irak.