Wir leben wieder in einer Phase der „Konzentration des Kapitals in wenigen Händen“, behauptet ein französischer Wissenschaftler
Seit einigen Monaten erregt ein Buch des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty ungewöhnliches Aufsehen in den USA. Es handelt sich um die englische Übersetzung eines Werkes, das Piketty 2013 auf Französisch veröffentlicht hatte und mit dem er nun unter dem englischen Titel „Capital in the 21st Century“ die amerikanischen Bestsellerlisten stürmte. Darin versucht der Autor nachzuweisen, dass die von Karl Marx im 19. Jahrhundert beobachtete und bis zum Ersten Weltkrieg für Westeuropa und die USA statistisch belegte „Konzentration des Kapitals in wenigen Händen“ seit 1980 wieder erheblich zugenommen hat und im 21. Jahrhundert einen neuen Höhepunkt erreichen wird.
Zum Beweis hat Piketty in über zehnjähriger mühseliger Kleinarbeit Daten aus Vermögens- und Einkommenssteuer-Aufzeichnungen der statistischen Ämter zusammengetragen, die zum Teil bis 1770 zurückreichen. Da nicht alle westlichen Länder diese Daten haben, konzentriert er sich vor allem auf die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Schon das hierfür erhobene Datenvolumen ist beeindruckend und in solcher Fülle bisher nicht vorhanden. Es wirft aber Fragen auf. Wie zuverlässig ist die Verarbeitung der Vermögens- und Einkommensdaten bei den statistischen Ämtern? Kann man überhaupt Finanzdaten aus zwei Jahrhunderten vergleichen?
Diese Fragen können hier nur pauschal beantwortet werden. Die Seriosität der Statistikämter muss man voraussetzen, ihre Zahlen werden ständig von Politik und Wirtschaft verwendet. Die Vergleichbarkeit habe ich durch Plausibilitätsüberlegungen überprüft: Die Daten in außergewöhnlichen Zeiträumen (Weltkriege, Weltwirtschaftskrise usw.) haben die erwarteten Werte und zeigen keine Ungereimtheiten.
Pikettys Daten ergeben folgendes Bild: Das Privatvermögen war vor dem Ersten Weltkrieg in den USA und Europa extrem ungleich verteilt: Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung, vor allem Aristokraten und Industrielle, besaßen 1910 in den USA 80 und in Europa 90 Prozent des Privatvermögens. Durch die Weltkriege und Weltwirtschaftskrise ab 1930 wurde ein Teil dieser Vermögen vernichtet, der Anteil der Reichen sank auf unter 60 Prozent. Diese Verteilung blieb bis etwa 1980 erhalten, stieg dann aber und erreichte 2010 in den USA 73 und in Europa 64 Prozent. Piketty führt den stärkeren Anstieg in den USA auf die neoliberale Politik der Präsidenten Reagan und Bush mit ihrer gewaltigen Einkommenssteuer-Senkung auf die Hälfte zurück. Dies wird gestützt durch die Tatsache, dass die obersten zehn Prozent der US-Einkommensbezieher ihren Anteil am Volkseinkommen in dieser Zeit von 36 auf knapp 50 Prozent steigerten.
Die Behauptung von Bush, die Steuersenkungen würden das Wirtschaftswachstum steigern und dadurch der Mittelstand profitieren, konnte ich durch eine ökonometrische Analyse mit den Daten von Piketty ins Reich der Fabel verweisen. Weder die Steuererleichterungen noch die Vermögens- und Einkommenszuwächse der oberen zehn Prozent haben das Wirtschaftswachstum der USA seit 1980 beflügelt.
Betrachtet man alle Daten Pikettys, so lässt sich feststellen, dass die Länder mit dem angelsächsischen Kapitalismus eine rasante Umschichtung des Vermögens und der Einkommen auf die oberen zehn Prozent erleben, während Kontinentaleuropa und Deutschland ein moderateres Bild abgeben, aber die gleiche Richtung einschlagen. Piketty sieht mit dieser Entwicklung den Zusammenhalt der Gesellschaft in unseren Ländern und damit die Demokratie gefährdet. Er schlägt eine drastische Erhöhung der Spitzensteuersätze der Einkommens-, vor allem der Erbschaftssteuer vor, um Vermögen stärker an Leistung und nicht an Vererbung zu binden.
Darüber muss man nachdenken. Wir sind einerseits von der Evolution auf die Vererbung unserer genetischen und auch finanziellen Ressourcen geprägt, sodass eine sehr hohe Erbschaftssteuer gesellschaftlich nicht konsensfähig ist. Andererseits können in Deutschland praktisch steuerfrei riesige Unternehmensvermögen vererbt werden, wenn das Unternehmen einige Jahre fortgeführt wird und Arbeitsplätze erhalten bleiben. Das geht auch nicht. Hier muss die Politik für einen besseren Interessenausgleich sorgen.