Die Verlage drohen die Fehler der Musikindustrie zu wiederholen – auf der Strecke bleibt ein Kulturgut
„Die Zeitmaschine“ hat diesen wichtigen Moment der Menschheitsgeschichte auf den 12. Oktober des Jahres 802.701 gelegt – in dem US-Spielfilm nach dem großartigen Roman von H.G. Wells trifft der Zeitreisende George auf das Volk der Eloi, die genügsam und selbstzufrieden in einem großen Garten leben. Die Idylle bekommt für den Zuschauer rasch Risse, spätestens in dem Moment, in dem die Eloi George in eine alte Bibliothek führen. Die Bücher sind zu Staub verfallen. Weder lesen die Eloi noch verstehen sie überhaupt, was Bücher sind.
So weit geht der Kulturpessimismus noch nicht, dass man ein baldiges Verlernen der Kulturtechnik des Lesens befürchten muss. Wer ein Mobiltelefon, das Internet oder selbst einen Rasenmäher bedienen möchte, wird lesen müssen. Nur Bücher bedarf es dazu nicht mehr. Sie werden deutlich vor dem Jahr 802.701 verschwunden sein. Und ausgerechnet die Verlage und Händler beschleunigen diese Entwicklung. Wer dieser Tage durch die großen Buchhandlungen streift, mag sich fragen, warum er überhaupt noch Bücher kaufen soll. Geradezu aufdringlich versuchen die Läden, die Leser auf eigene elektronische Lesegeräte wie den Tolino umzulenken. Das ist im Kampf der Buchketten gegen den multinationalen Riesen Amazon mit seinem Kindle zwar nachvollziehbar. Ob es aber auch klug ist, wird sich erst später zeigen. Einiges deutet darauf hin, dass das Kulturgut Buch insgesamt Schaden nimmt.
Wer daran zweifelt, sollte mit offenen Augen durch die Stadt gehen. Immer mehr Läden schließen: Zweitausendeins hat sich ins Internet verabschiedet, Thalia dünnt sein Filialnetz aus, Weltbild musste Insolvenz anmelden. In den Straßen stehen plötzlich Kisten, mit denen Anwohner ihre alten Bücher verschenken. Bücherflohmärkte, einst Magnet für Leseratten, locken inzwischen kaum noch hinter dem Ofen hervor. Und das klassische Bücherregal, früher ein unverzichtbares Accessoire des Bildungsbürgertums, ist aus den Schöner-Wohnen-Welten längst verschwunden. Zu Studentenzeiten war die Befüllung des Billy-Regals Statement wie Selbstdarstellung – die aufgereihte Literatur sagte mehr über den Bewohner aus als so manche durchquasselte Nacht. Das Bücherbord entschied über Sympathie und Antipathie, ja über Liebe oder Verachtung. Dieser Schnellscan dürfte in Zeiten von Topolino und Kindle nur noch der NSA möglich sein. Auch der alte Traum, eines Tages im Ohrensessel in seiner Bibliothek zu sitzen, in der sich die Werke bis unter die Decke türmen, ist ausgeträumt. Er wirkt angestaubt wie das Spitzweg-Gemälde „Der Bücherwurm“.
Der Buchhandel könnte den Fehler machen, der die Musikindustrie fast atomisiert hat: Mit dem Umstieg von der Schallplatte zur CD hat sie den haptischen Genuss der Musik zerstört. Der magische Moment, die Vinylscheibe vorsichtig aus der Schutzhülle in die Finger gleiten zu lassen, war mit der CD dahin. Die Silberscheibe hat das Plattencover als Gesamtkunstwerk zerstört und die Zeremonie des Musikhörens beendet. Die CD sollte die Verlage noch reicher machen, doch sie machte sie arm: Musik ist heute ein Audiofile, überall und jederzeit verfügbar, austauschbar. Mit der Wertschätzung verflüchtigte sich der Wert.
Gleiches droht nun dem Buch. Nicht nur dem Paperback, sondern auch dem gebundenen Werk. Denn das Gesamtkunstwerk Buch wird auf den Inhalt, seine Buchstabenabfolge reduziert. Den Schutzumschlag, der leicht in den Händen lag, der Duft des Leineneinbands, das Spiel mit dem Lesefaden – sie alle dürften mittelfristig ihren Zauber verlieren. Kurzfristig hoffen die Verlage mit digitalen Büchern auf das große Geschäft. Denn die Datei kostet im Verkauf nur rund zehn Prozent weniger, ist in der Produktion aber deutlich günstiger. Der Druck entfällt, Logistik, Jobs, Mieten – für Autor und Händler ein prächtiges Geschäft, der Rest in der Nahrungskette des Kulturgutes Buch dürfte verhungern.
Den Fortschritt, das ist seit den Maschinenstürmern bekannt, hält man nicht auf. Aber man kann ein wenig Sand im Getriebe streuen, wenn man am Zauber des Buches und dem Kulturgut Buchhandel hängt: Einfach dort einkaufen. Und nur dort! Ein guter Buchladen ist noch immer wie eine Zeitreise in eine bessere Welt.
Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt