Senat darf die Vorbehalte vieler Eltern gegen das Turbo-Abi nicht länger ignorieren
Es ist ein Achtungserfolg: Die 16.730 Unterschriften, die die Volksinitiative „G9-Jetzt-HH“ zur Wiedereinführung der neunjährigen Schulzeit an den Hamburger Gymnasien innerhalb von sechs Monaten gesammelt hat, sind das Ergebnis der Fleißarbeit von nicht einmal 100 Aktiven – errungen gegen die vorherrschende Meinung in der Politik. Sicher: Die Kampagne gegen das „Turbo-Abitur“ hat nicht die Wucht der Initiative, die sich 2008–2010 gegen die sechsjährige Primarschule richtete. Die Gruppe „Wir wollen lernen“ holte damals im ersten Schritt auf dem Weg zum Volksentscheid schon nach zwei Monaten, und nicht etwa erst nach sechs, rund 12.000 Unterschriften. Aber beide Themen – „Turbo-Abi“ und Primarschulen – eint, dass sie hoch emotional diskutiert werden können und auch diskutiert werden.
Wenn der „G9“-Initiative eine ähnliche Professionalisierung ihrer Kampagne gelingen sollte wie damals den Primarschulgegnern um den heutigen Bürgerschaftsabgeordneten Walter Scheuerl, dann könnte sie durchaus die nächste Hürde – das Volksbegehren – schaffen. Dann müssen allerdings in drei Wochen rund 62.000 Unterstützer gewonnen werden.
Nicht zu unterschätzen ist auch der David-Goliath-Effekt: Wie beim Kampf gegen die längere Grundschulzeit stehen auch jetzt bei der Verlängerung der Schulzeit bis zum Abitur alle Fraktionen der Bürgerschaft gegen die Volksinitiative. Das führt leicht zu dem Effekt, „der Politik“ eins auswischen zu wollen. Mit anderen Worten: Es wäre leichtsinnig und kurzsichtig von Senat und Bürgerschaft, das vermeintlich magere Ergebnis der Initiative „G9-Jetzt-HH“ auf die leichte Schulter zu nehmen. Es gibt in Teilen der Elternschaft durchaus Unzufriedenheit mit dem Stress, den die verkürzte Schulzeit an Gymnasien bei manchen Kindern verursacht. Das müssen Senat und Bürgerschaft jetzt ernst nehmen. Sie haben es zu lange ignoriert.
Das Problem ist, dass die konsequente Umsetzung von G9 an Gymnasien das Hamburger Schulsystem in so starkem Maße durcheinanderrütteln würde, dass die daraus entstehende Unruhe die Konzentration auf das Kerngeschäft guten Unterrichts auf Jahre beeinträchtigen würde. Das ist weder Schülern noch Eltern oder Lehrern zu wünschen. Mehr noch: Das muss verhindert werden.
Wenn alle Gymnasien – wie die Stadtteilschulen schon jetzt – künftig auch das Abitur nach neun Jahren anbieten, würde sich der Sog zum Gymnasium als der bei Eltern beliebtesten Schulform weiter verstärken.
Eltern, die für ihr Kind den längeren Weg zum Abitur trotz Gymnasialempfehlung für richtig halten, wählen heute die Stadtteilschule. Welchen Grund sollte es für diese Väter und Mütter noch geben, das Gymnasium zu meiden, wenn es auch G9 anbietet?
Schon heute ist der Anteil gymnasial empfohlener, also leistungsstärkerer Kinder an vielen Stadtteilschulen erschreckend gering. In Zukunft würden auf Stadtteilschulen die Kinder derjenigen Eltern wechseln, die prinzipiell dafür sind, dass Jungen und Mädchen mit unterschiedlichen Fähigkeiten gemeinsam unterrichtet werden. Und es bleiben die Kinder, die wenig Chancen auf das Abitur haben. Für eine erfolgreiche Alternative zum Gymnasium wird das zu wenig sein.
Die Grünen schlagen vor, pro Bezirk ein Gymnasium mit längerer Schulzeit einzurichten. Darüber muss trotz aller daraus resultierender Schwierigkeiten gesprochen werden. Denkbar ist auch, dass das Schulgesetz es den Gymnasien freistellt, ob sie G8 oder G9 wählen. Dann läge die Entscheidung bei denen, die sie unmittelbar betrifft.
Dagegen kann die „G9“-Initiative, die ja für Wahlfreiheit eintritt, nicht sein, auch wenn die Bereitschaft an Gymnasien, zu G9 zurückzukehren, bislang gering ist.
Der Autor leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts