Lampedusa in Hamburg: Die Kritik am SPD-Senat wegen seiner Flüchtlingspolitik ist so überzogen wie schräg
In was für einer Stadt leben wir eigentlich? Da wagen Radikalinskis aus dem Umfeld der Roten Flora, dem Senat ein Ultimatum zu stellen. Da meinen politische Wirrköpfe, Flüchtlingen zu helfen, indem sie Feuerwerkskörper auf Polizisten werfen. Da gehört es zum guten Ton, von allen Seiten auf Innensenator Michael Neumann einzuprügeln. Die Grünen fordern, der Bürgermeister müsse „endlich seinen Innensenator, der den harten Hund gibt, an die Leine nehmen“, die Sprecher der Flüchtlinge werfen dem Senat „Rassismus“ vor, die Linke spricht von „menschenfeindlicher Haltung“. Die „taz“ schreibt von „Hetzjagd“, der „Spiegel“ wertet: „Neumann profiliert sich als Hardliner.“ Ausgerechnet in der Stadt, die vor zwölf Jahren mit wahnsinnigen 19,4 Prozent einen Rechtspopulisten wählte, mutiert man heute zum Hardliner, wenn man als Innensenator auf die Gesetzeslage verweist. Neumann hält sich an geltendes Recht. Und damit hat der Sozialdemokrat recht.
Die Scharfmacher in der Flüchtlingsfrage sollten dringend abrüsten und statt Emotion wieder Fakten in den Mittelpunkt rücken. Es ist verständlich, dass angesichts der Tragödie von Lampedusa die Wut ebenso wächst wie die Bereitschaft zur Hilfe für die Flüchtlingsgruppe „Lampedusa in Hamburg“ – aber das eine hat mit dem anderen außer dem Namen der italienischen Insel wenig zu tun. „Lampedusa in Hamburg“ nennen sich die 300 Afrikaner, die vor Monaten nach Hamburg gekommen sind. Ihr selbst gewählter Titel hat durch die Tragödie vor Italien an Wucht gewonnen. Darum wissen sie. In ihrer jüngsten Erklärung klagen die Flüchtlinge den Senat an: „Noch während des frischen Schmerzes über die jüngsten Toten vor Lampedusa setzen Sie eine Polizeioperation gegen uns, die Überlebenden des Kriegs und der Flucht nach Lampedusa, in Gang, die die Welt schockiert.“ Wie sähe die öffentliche Solidarität aus, wenn sich die Gruppe „Libyer in Hamburg“ genannt hätte? Oder gar „Opfer der Gaddafi-Gegner“ beziehungsweise „Vertriebene der Nato“?
Die Flüchtlinge haben Libyen verlassen, weil sie sich wegen der Revolution dort nicht mehr sicher fühlten. Das ist verständlich, aber das deutsche Asyl- beziehungsweise Aufenthaltsrecht definiert Bedingungen, stellt den Verfolgten Fragen. Warum sind sie geflohen? Warum kehrten sie nicht in ihre Heimatländer zurück, sondern flohen nach Europa? Ein Staat, der allen anderen Asylbewerbern diese Fragen stellt, kann keine Ausnahmen machen, nur weil sich die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ nennt und viel Solidarität erfährt. Warum sollten ausgerechnet die, die jede Zusammenarbeit mit den Behörden ablehnen, in den Genuss einer Sonderbehandlung kommen?
Es ist aller Ehren wert, als Kirche oder Hilfsgruppe in Hamburg eine humanitäre Lösung im Einzelfall einzufordern. Aber für einen Innensenator stellt sich die Frage anders. Er muss das große Ganze sehen. Er kann kaum gutheißen, dass in Zukunft Stadtteilpfarrer über eine Aufenthaltserlaubnis entscheiden und nicht die Exekutive. Er kann nicht wollen, dass ein konsequentes Ignorieren der Gesetze am Ende belohnt wird. Erst recht kann er sich nicht Ultimaten oder Gewaltauswüchsen von Linksextremisten beugen.
Angesichts der jüngsten Eskalation rückt die Situation der Flüchtlinge auf St. Pauli ohnehin in den Hintergrund. Einige Gruppen instrumentalisieren die Afrikaner. Insider sagen, sie würden von ihren Sprechern und den politischen Unterstützern in Unmündigkeit gehalten. Da wäre es an der Zeit, dass die Kirche sich aus der Fundamentalopposition heraustraut. Die Lösung muss aus der Mitte kommen.
Diese Mitte haben andere längst verloren. Einigen Aktivisten geht es nur um eine radikal andere Asylpolitik. An diesem Punkt klinkt sich auch die Rote Flora ein, die endlich ein Thema gefunden hat, mit dem sie mobilisieren kann. Zwar ist der Kampf gegen die „Festung Europa“ ein Klassiker im autonomen Forderungskatalog, eine Eskalation kommt aber äußerst gelegen. Wieder einmal ist die Zukunft der Roten Flora ungewiss – da setzt man sich gern an die Spitze einer Bewegung, die vermeintlich auf breiten Füßen steht. Das schürt den Mut und Übermut der Radikalen. Zumal sich seltsame Allianzen bilden. Allen Ernstes geißelten die Grünen, nachdem über 1000 Linksautonome durch das Schanzenviertel zogen, den „Eskalationskurs“ des Senats. Wer eskaliert denn da? Wenn Beamte Menschen auf St. Pauli kontrollieren, sieht Vize-Bischof Karl-Heinz Melzer darin einen „massiven Polizeieinsatz“, und Pfarrer Sieghard Wilm warnt gar vor „Deportationen“. Was ist das für ein Geschichtsbild? Und wenn ausgerechnet die Flüchtlinge „Rechtswidrigkeiten und Rechtsbeugungen“ beklagen, welches Rechtsverständnis offenbaren sie?
In Hamburg sind die Maßstäbe ver-rückt.
Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt