Der Ausgang des Netze-Volksentscheids ist ein Desaster für die Energiepolitik der allein regierenden Hamburger SPD
Es hätte der ganz große Tag des Olaf Scholz werden können: Erst holt die SPD alle sechs Hamburger Direktmandate bei der Bundestagswahl, wetzt die Scharte von 2009 mit nur drei direkt gewonnenen Wahlkreisen aus und erreicht damit das von Scholz etwas vollmundig vorgegebene Wahlziel. Dann gelingt es dem Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzenden auch noch – mit tat- und finanzkräftiger Unterstützung der großen Energieversorger – die Stimmung beim Volksentscheid zum Rückkauf der Energienetze zu drehen und die Befürworter der Rekommunalisierung in die Schranken zu weisen.
„Hätte, hätte, Fahrradkette“, möchte man mit dem schon zum geflügelten Wort gewordenen Spruch des gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück dessen Parteifreund Scholz zurufen. Es ist eben alles anders gekommen: Der glänzende Sieger der Bürgerschaftswahl vom März 2011, der der SPD die absolute Mehrheit im Rathaus brachte, hat einen schweren Dämpfer erlitten. Vor allem das Ja der Hamburger zum Rückkauf der Netze geht auf Scholz’ Minuskonto.
Von Beginn an hatte der Bürgermeister das Nein zum milliardenschweren Deal einer Rekommunalisierung zu seiner Sache gemacht. Sicher: Zu Jahresbeginn wollten noch zwei Drittel der Hamburger in Umfragen die Stromleitungen sowie Gas- und Fernwärmerohre zurück in eigene Regie übernehmen. Der Vorsprung ist erheblich dahingeschmolzen. Jetzt ist die Stadt in dieser Frage praktisch gespalten, was Scholz aber nicht hilft.
Das knappe Votum der Hamburger für den Netze-Rückkauf ist vor allem ein Desaster für die Energiepolitik des Ersten Bürgermeisters. Scholz hatte seine Partei im Grunde ohne Not und gegen anfänglich erhebliche Widerstände in den eigenen Reihen zum Erwerb einer Minderheitsbeteiligung von 25,1 Prozent an den Netzen gedrängt. Nach dem Wahlsieg 2011 wurde das Scholz-Programm buchstabengetreu umgesetzt. Die Energieversorger und Netzbetreiber Vattenfall und E.on verpflichteten sich zur Modernisierung ihrer Anlagen und zu einer ökologischen Umsteuerung mit einer deutlichen Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Das alles ist nun Makulatur. Die Energiewende in Hamburg ist vorerst auf Eis gelegt.
Scholz hat von Beginn an jede Kompromissbereitschaft gegenüber der Volksinitiative beiseite gewischt. Er ist volles Risiko gegangen – aus persönlicher Überzeugung, das mag man ihm zugute halten, zumal er gute Gründe hatte. Aber dennoch steht Scholz jetzt mit leeren Händen da. Mehr noch: Der mit absoluter Mehrheit regierende Bürgermeister muss nun eine Energiepolitik umsetzen, die er für falsch hält. Das ist – man kann es drehen und wenden, wie man will – unter dem Strich ein erheblicher Machtverlust. Scholz muss erstmals seit der Amtsübernahme in einer zentralen politischen Frage tun, was er nicht will. Der Bürgermeister steckt darüber hinaus in einer Zwickmühle: Er darf nicht einmal den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, er treibe den Rückkauf der Netze entschlossen voran. Das würde ihm sofort den Vorwurf eintragen, er hintertreibe das Ergebnis des Volksentscheids.
Scholz und die SPD müssen sich in einem weiteren Punkt Gedanken machen: Die SPD-Wähler haben der Parteispitze zu einem erheblichen Teil die Gefolgschaft verweigert. Anders ausgedrückt: Bürgermeister, Partei und Bürgerschaftsfraktion haben an den eigenen Unterstützern vorbei Politik gemacht. In keinem anderen Wählerspektrum war die Zustimmung zum Netze-Rückkauf so hoch wie gerade bei der SPD. Nicht einmal bei den Grünen-Wählern war die Unterstützung für den Netze-Rückkauf derart verbreitet, obwohl die Grünen doch gewissermaßen der parlamentarische Arm der Volksinitiative waren.
Die Sozialdemokraten sind traditionell nicht nur eine staatstragende Partei, viele Mitglieder sind auch sehr staatsgläubig. Die Vorstellung, der Staat soll es richten, ist weit verbreitet. Dazu gehört allemal, dass der Staat auch als Unternehmer auftritt. Hamburg, das jahrzehntelang von der SPD regiert wurde, bietet dafür zahlreiche Beispiele. Scholz, der einen wirtschaftsfreundlichen Kurs fährt, hat die Stimmungslage im eigenen Lager unterschätzt oder ignoriert.
Der verlorene Volksentscheid enthält für die allein regierenden Sozialdemokraten die grundlegende Warnung vor Politik nach Gutsherrenart. Es ist denkbar, dass der Volksentscheid nicht nur energiepolitisch eine Zäsur bedeutet. Es ist der Anfang vom Ende des Durchregierens, das die erste Phase der Amtszeit von Olaf Scholz gekennzeichnet hat.
Der Autor leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts