Olaf Scholz muss das Occupy-Camp am Gertrudenkirchhof schnell räumen - sonst drohen rechtsfreie Räume in der Stadt
Hamburg versteht sich als weltoffene und liberale Großstadt. Zu unserem Selbstverständnis zählt dabei vor allem auch Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Und weil wir alle so stolz auf diese wertegebundene Tradition unserer Stadt sind, werden diese Begriffe in letzter Zeit vor allem auch im politischen Kontext inflationär bemüht.
Das erleben wir derzeit in der Diskussion um die Besetzung des Gertrudenkirchhofs durch die Occupy-Camper. Und wir haben es erlebt beim Streit um die Einzäunung einer Fläche unter der Kersten-Miles-Brücke, die von Obdachlosen bevölkert wird.
Auch wenn die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, so ähneln sich die politischen Rollenspiele. War es damals auch die CDU, die den damaligen SPD-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber für dessen konsequentes Vorgehen gegen die unerträglichen Zustände unter der Kersten-Miles-Brücke als überzogen und wenig großstädtisch handelnd kritisiert hatte, so ist es heute Schreibers Nachfolger Andy Grote und seine SPD-Fraktion in Mitte, die der CDU auf ihre Forderung nach Räumung des Camps entgegenhält, "so etwas müsse man in der Großstadt aushalten". Das Beispiel zeigt: der ständige Verbal-Wettlauf, wer denn nun großstädtischer, liberaler, weltoffener oder hanseatischer ist, taugt nicht zur Problemlösung, sondern schadet vor allem der Glaubwürdigkeit derer, die diese Begriffe ständig zur Selbstrechtfertigung missbrauchen, ohne deren tiefere Bedeutung überhaupt intellektuell zu hinterfragen. Das gilt für die Dauerkritik des SPD-Fraktionsvorsitzenden, die CDU beherrsche keine Großstadtpolitik ebenso wie für den aktuellen Selbstfindungsaufsatz des CDU-Landesvorsitzenden.
Was bedeutet denn großstädtische Toleranz? Jedenfalls nicht, dass jeder jegliches Verhalten eines anderen klaglos erdulden muss. Im Rechtsstaat legt die Rechtsordnung das Dürfen des einen und das Erdulden-Müssen des anderen und damit auch die Grenzen der Toleranz verbindlich fest. Folglich ist auch nicht derjenige, der sich auf die für alle geltende Rechtsordnung beruft, per se ein intoleranter Hinterwäldler. Wer einem solchen Denkmuster folgend für sich Sonderrechte in Anspruch nehmen will, die die Rechtsordnung nicht hergibt, und damit andere in ihren geschützten Rechten beeinträchtigt, handelt seinerseits intolerant.
Natürlich muss Verwaltungshandeln dabei immer auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Blick haben. Wenn die "Duldung" bestimmter Rechtsverstöße aus politischer Opportunität aber zur Regel wird und dann wie aktuell am Gertrudenkirchhof einerseits der kleinste Parkverstoß konsequent geahndet wird, während andererseits die Occupy-Camper" vor den Augen der Verwaltung vor Eingangstüren urinieren, den Platz vermüllen und dabei den Betroffenen neben der Belästigung auch einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen, dann fragen sich nicht wenige, weshalb sich einige in dieser Stadt offensichtlich aussuchen können, ob sie sich an Vorschriften halten oder nicht. Ist die Akzeptanz der Rechtsordnung erst einmal infrage gestellt, wird manch kleines Feuer schnell zum Flächenbrand. Nun mag man diese Analyse angesichts von ein paar Campern übertrieben finden. Politisch gefährlich für den Senat wird es in jedem Fall in Verbindung mit aktuellen Äußerungen von führenden SPD-Bezirkspolitikern aus Mitte, die die Sorge vor "autonomer Randale" als Rechtfertigung für die Duldung rechtsfreier Räume in Anspruch nehmen wollen und anregen, man möge doch über andere Standorte mit den Campern verhandeln. Im Klartext bedeutet dies die Kapitulation des Rechtsstaates vor Gewalttätern, wenn sie nur aggressiv genug auftreten. Wenn dies einmal im Bezirk Mitte funktioniert, werden weitere rechtsfreie Räume anderswo nicht lange auf sich warten lassen.
Deswegen ist der Bürgermeister klug beraten, wenn er dem Spuk schnellstmöglich durch ein Machtwort ein Ende bereitet. In der Sprache des Olaf Scholz haben die Bürger bei der letzten Wahl "ordentliches Regieren bestellt". Wenn sie es bekommen sollen, führt an einer schnellen Räumung des Gertrudenkirchhofs kein Weg vorbei.