Der Westen hat Ägyptens Volk viel zu lange ignoriert.
"Er ist ein Hurensohn. Aber er ist unser Hurensohn", sagte US-Präsident Franklin D. Roosevelt einst über Nicaraguas Diktator Anastasio Somoza, der das Land von 1937 an fast zwei Jahrzehnte lang brutal beherrschte. Dieser bemerkenswerte Satz wurde noch einmal inbrünstig von Ronald Reagan bezüglich des irakischen Tyrannen Saddam Hussein wiederholt. Er ist bezeichnend für die widersprüchliche Haltung des Westens, namentlich der USA, zu nützlichen Despoten. Jahrzehntelang stand Amerika auch in Treue fest zum Ägypter Husni Mubarak. Kritik an seinem Regime wurde durchaus geäußert - aber meist nur in homöopathischen Dosen; die deutlichste Kritik übte übrigens George W. Bush.
Von WikiLeaks dieser Tage enthüllte US-Diplomatenpost zeigt, dass US-Außenministerin Hillary Clinton 2009 sogar dringend geraten wurde, den Namen des 2005 vorübergehend inhaftierten Oppositionellen Ayman Nour nicht einmal zu erwähnen. Am vergangenen Freitag, als der Volkszorn in Kairo längst überkochte, lobte Clinton Mubarak noch als "Anker der Stabilität." Nun plötzlich hat es die Obama-Administration ganz eilig, seinen Rücktritt zu fordern. Und die EU bietet dank der Schwäche ihrer Außenpolitikchefin Ashton ein Froschkonzert Dutzender Stimmen.
Der Westen unterhält Hunderte Denkfabriken und gewaltige Geheimdienstnetze. Jedem Experten war seit Jahren klar, dass es in Ägypten einmal knallen würde - doch alle waren völlig überrascht, als es dann passierte. Die stärkste arabische Macht, die jährlich von Millionen Touristen besucht wird, ist das, was wissenschaftlich als "Black Box" gilt, als Einheit, deren wahres Innenleben verborgen bleibt.
Der Grad der Volkswut wurde sträflich unterschätzt; und niemand weiß genau, wie die Machtlinien und Entscheidungsprozesse in der Armee laufen. Die weltliche Opposition bleibt nebelhaft in Strukturen und Absichten; und der schillernden Muslimbruderschaft wird von allerlei Kommentatoren abwechselnd unterstellt, sie wolle einen Gottesstaat nach iranischem Vorbild oder eine islamisch geprägte Demokratie wie in der Türkei. Der Westen hat Ägypten zu lange nur als strategisch bedeutsamen Dominostein und regionalen Stabilisator betrachtet, das Regime hofiert und das Volk ignoriert. Es gibt noch viele Diktaturen auf der Welt - und somit Gelegenheit genug, aus den Fehlern gegenüber Ägypten zu lernen.