Hamburg. Sie ist seit einem halben Jahr Programmchefin von NDR Kultur. Die Journalistin soll Hörfunk, Fernsehen und online zusammenführen.

Der oft zitierte „Spagat zwischen Qualität und Quote“ – er gehört bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten keineswegs zum Programmauftrag, schwebt aber über vielen Entscheidungen von gestern und heute. Geturnt hat Anja Würzberg zu Kinderzeiten nicht, vertraut ist ihr aber das Klavier.

Fast beiläufig setzt sich die Frau im modischen blauen Hosenanzug an den Flügel in einem Produktionsstudio vom Haus 12 auf dem NDR-Gelände in Harveste­hude. „Ich bin Pastorentochter, da lernt man Klavierspielen, sobald man gehen kann“, sagt Anja Würzberg lächelnd. Querflöte spiele sie auch, „aber beides nur für den Hausgebrauch.“

Da vertraut sie lieber den Beschäftigten bei NDR Kultur. Viele der hier Tätigen seien hervorragend ausgebildete Musiker und Sänger, sagt Würzberg. Wie etwa der 2018 mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnete Früh-Moderator Philipp Schmid. Deren Expertise gelte es zu nutzen.

Ihr Lieblingsort beim NDR?„Die Teeküche!“

„Vertrauen“ ist ein Substantiv, das Anja Würzberg gern und oft gebraucht. Vermittlung und Vernetzung, darum geht es in ihrer Position auch. Und um Verantwortung. Seit einem halben Jahr ist Anja Würzberg verantwortlich für das Programm von NDR Kultur und damit Nachfolgerin von Barbara Mirow, die 2004 beim früher als NDR 3 bekannten klassischen Rundfunksender inthronisiert wurde.

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Sie konnte damals nicht länger Nachrichtenchefin bei NDR Info sein, da ihr Ehemann Thomas Mirow als Hamburger SPD-Bürgermeister-Kandidat gegen Amtsinhaber Ole von Beust (CDU) zur Bürgerschaftswahl 2004 antrat. Ebenso wenig wie man heute derlei Ex-Spitzenpolitikern eine Träne nachweint, verhielt es sich im vorigen Herbst auf den NDR-Fluren zwischen Rothenbaumchaussee und Mittelweg mit der pensionierten Langzeit-Kulturchefin.

Gespräche sind Anja Würzberg sehr wichtig

Mit Anja Würzberg – das ist beim Schnelldurchgang durch das Haus 12 spürbar – weht ein anderer Wind. Hier, im zweiten Stock bei NDR Kultur, ist sie jetzt ganz oben. Gefragt nach ihrem Lieblingsort auf dem NDR-Gelände antwortet die Kulturchefin: „Die Teeküche!“ Weshalb? Anja Würzberg überlegt beim Spaziergang zur Alster nur kurz: „Mir ist es sehr wichtig, dass ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch komme und im Gespräch bleibe.“ Auch wenn es aufgrund der Pandemie seit Monaten nur „eine virtuelle Teeküche“ sei, in die sie zum informellen Austausch lädt. So spricht ein Kommunikationsprofi.

Bei den wöchentlichen Videokonferenzen begrüßt sie bis zu 120 Frauen und Männer, für 74 Festangestellte trägt Anja Würzberg die Personalverantwortung. Über allem bei ihrer Arbeit stehe die Frage: Was ist Kultur? „Diskussionen da­rüber, wie breit wir unseren Kulturbegriff fassen, erlebe ich hier jeden Tag“, sagt sie.

Ihr Leitgedanke lautet „Kultur größer denken“

Dank Marktforschung wissen die Öffentlich-Rechtlichen am Rothenbaum längst, wer bisher der typische Empfänger von NDR Kultur ist: älter als 60, gute Schulbildung, klassikaffin. Das Radioprogramm für Klassik- und Kulturinteressierte erreicht in Norddeutschland täglich rund 250.000 Hörer, zum weitesten Hörerkreis zählen bundesweit 1,8 Millionen Menschen.

Das reicht weder Würzberg noch der neuen Musikchefin Bettina Taherie-Zacher noch dem Sender. Ihren Leitgedanken „Kultur größer denken“ möchte Anja Würzberg trotz der bekannten Sparzwänge möglichst bald umsetzen. Dennoch: Der NDR muss bis zum Jahr 2024 in allen Bereichen mit 300 Millionen Euro weniger wirtschaften. Das stand schon vor der Corona-Pandemie fest.

„Crossmedial“ heißt das Zauberwort

All das macht es nicht gerade leichter, Vertrauen zu erwerben und zu erhalten. „Meine Rolle ist auch, für eine bessere Arbeitsatmosphäre und Arbeitsabläufe zu sorgen“, beschreibt es Anja Würzberg. Anders als manch verbissene, zuweilen selbstgefällige Chefs – ob nun auf dem traditionellen NDR-Grund in Harvestehude oder dem im Wandel steckenden Areal in Lokstedt – wirkt diese Führungsfrau weitgehend frei von Eitelkeiten, geschickt im persönlichen Gespräch und Umgang miteinander.

Das Programm für den Radiosender NDR Kultur neu zu strukturieren, ohne die Stammhörerschaft vor den Kopf zu stoßen, ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Anja Würzberg soll bis zum Jahresende alle Kulturredaktionen des NDR – Hörfunk, Fernsehen und Online – zu einer neuen Hauptabteilung Kultur zusammenführen. „Crossmedial“ heißt das Schlag- und Zauberwort. Was der 50-Jährigen dabei hilft: Parallel zu ihrer journalistischen Tätigkeit absolvierte Anja Würzberg beim NDR eine Ausbildung zum zertifizierten Teamcoach.

Persönliche Referentin des langjährigen Intendanten Jobst Plog

Dass die studierte Theologin und Journalistin als persönliche Referentin des langjährigen Intendanten Jobst Plog, dem Vorvorgänger des heutigen NDR-Chefs Joachim Knuth, gearbeitet hat, hat Anja Würzberg ebenso wenig geschadet wie männlichen Pendants in vergleichbarer Funktion.

Nach ihrem Volontariat beim WDR war die gebürtige Bielefelderin 2002 zum NDR gekommen, führte bei NDR Kultur durch die Sendung „Klassik a la carte“ und wurde einem zahlenmäßig größeren Fernsehpublikum als Moderatorin des Magazins „Hallo Niedersachsen“ bekannt, dem Äquivalent zum „NDR Hamburg Journal“. Sie entwickelte das sogenannte strategische Qualitätsmanagement für den NDR und die gesamte ARD mit und leitete zuletzt sechs Jahre lang die NDR-Fernsehredaktion Religion und Gesellschaft.

Im linearen Radio ist einiges an tiefgründigen Sendungen verloren gegangnen

Jetzt, an der frischen Alsterluft, sagt Anja Würzberg: „Indem der NDR eine Fernsehfrau zur Leiterin einer Radiowelle gemacht hat, zeigt sich, dass die Geschäftsleitung sich was traut und es ernst meint mit der Crossmedialität.“ Und dass die Senderchefs ihr zutrauen, die Verzahnung von Hörfunk, Fernsehen und Online umzusetzen.

Im linearen Radio ist einiges an tiefgründigen Sendungen verloren gegangnen. Nach der bereits 2018 eingestellten „Prisma Musik“ ist seit diesem Jahr „Die Welt der Musik“ von zwei auf eine Stunde gekürzt worden, muss sich den neuen Sendeplatz am Sonntagabend zudem mit anderen Formaten teilen. Bei freien Mitarbeitern, spürbar etwa in der Besetzung von Moderations- und Onlineschichten oder bei reduzierten CD-Rezensionen, wurde massiv gespart.

Umso mehr freut sich Anja Würzberg, dass sie dem Jazz bei NDR Kultur nach der Umstellung von NDR Info zur reinen Wortwelle werktags ab 22.30 Uhr eine neue alte Heimat bieten konnte, ebenso dem Hörspiel; es ist noch bis 19. Mai mittwochabends mit der achtteiligen Serie „Jenseits von Eden“ (nach John Steinbecks Roman) sehr präsent.

Demnächst trifft Poetry Slam auf Wilhelm Busch

Hörspiele und Literatur für Kinder fehlen indes bisher bei NDR Kultur. Lieber verweist Würzberg darauf, dass es nach dem senderübergreifend entwickelten Podcast „eat.READ.sleep.“ seit Kurzem bei NDR Kultur mit „Land in Sicht – Bücher zum Leben“ eine weitere Literatur-Serie im Radio-Programm gebe – gestaltet von Lisa Kreißler und der NDR-Kultur-Literaturredaktion, produziert im dörflichen Zuhause der niedersächsischen Schriftstellerin.

Was crossmedial im NDR und der von ihr zu bildenden Hauptabteilung Kultur steckt, möchte Anja Würzberg mit ihrem Team am 22. Mai und 19. Juni an zwei Themenabenden zeigen: Dann heißt es zur besten Sendezeit im Fernsehen, Hörfunk und online: „Zeit für Kultur“ mit Programmpunkten aus unterschiedlichen Sparten: Poetry-Slam trifft auf Wilhelm Busch, Graphic Novel auf Oper, Singer-Songwriting auf Klassik.

Es trifft sich gut, dass die Kulturchefin auch mal Programmreferentin des Fernsehdirektors war – damals für sie nur eine Zwischenstation.