Hamburg. Über den wichtigsten Satz der ganzen Woche und kaum neue Gesichter.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.

21. Juni, Gäste: Politiker Stephan Weil (SPD), die Journalisten Robin Alexander und Johannes Hano, Ökonomin Monika Schnitzer
Wer Markus Lanz regelmäßig verfolgt, kann schon aus der Bekanntgabe der Gäste am frühen Abend herauslesen, wie die Sendung wird. Vor allem, wenn Robin Alexander zu Gast ist. Markus Lanz und der Bestsellerautor sind über die Jahre ein eingespieltes Team geworden, und zu zweit für Politikerinnen und Politiker gefährlicher, als es einer allein wäre.

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil weiß das, ihm ist vor der Aufzeichnung mitgeteilt worden, wer mit ihm im Studio sitzen wird, und er dürfte ahnen, dass es bei der anfänglichen, eher harmlosen Diskussion über die Folgen der eingeschränkten russischen Gaslieferungen an Deutschland nicht bleibt. So ist es, als nach rund 20 Minuten Lanz und Alexander scheinbar unter sich darüber sprechen, warum der größte Gasspeicher im niedersächsischen Rheden trotz der Annexion der Krim 2014 in russische Hände geraten ist.

Alexander sagt: „Da haben unsere Leute unsere Infrastruktur an die Russen verkauft.“

Lanz unterbricht: „Unsere Leute, Moment, das muss man präzisieren. Unsere Leute waren in diesem Fall BASF beziehungsweise DEA Wintershall, es war nicht Herr Weil, der da verkauft hat.“

Alexander: „Aber die sind politisch ermuntert worden.“

Lanz: „Was heißt politisch ermuntert?“

Alexander: „Die Idee war, dass sich unsere Unternehmen mit den russischen so verflechten, dass es nie wieder Krieg mit den Russen gibt, weil wir wirtschaftlich schon fast eins sind. Und das Gegenteil ist passiert. Die können Krieg führen, und wir müssen den Krieg weiter finanzieren, weil wir so verflochten sind.“

Lanz: „Das ist die groteske Situation.“

Alexander: „Und das ist wirklich ein epochales Unglück.“

Lanz: „Sie nennen es ein historisches Versagen.“

Alexander: „Ja, das ist wirklich eine Katastrophe. Natürlich zuallererst für die Ukraine, aber für uns jetzt auch vielleicht.“

Viel geschickter kann man nicht vorbereiten, was danach kommt.

Lanz sagt, zu Weil gewandt: „Sie sind 2013 Ministerpräsident geworden. 2015 geht dieser Deal (mit dem Gasspeicher in Rheden) über die Bühne, der Wirtschaftsminister heißt Sigmar Gabriel, auch ein bekannter Niedersachse aus dem schönen Goslar. Hatten Sie ein mulmiges Gefühl, dass sie den Russen ein Viertel der deutschen Gasspeicherinfrastruktur überlassen? (…)“

Weil: (…) „Es ist ein Zeichen dafür, dass wir deutlich zu wenig Problembewusstsein damals hatten, und wenn ich wir sage, meine ich die Gesamtheit der deutschen Politik, denn ich kann mich nicht entsinnen, dass das damals problematisiert wurde. (…) Wir haben es versäumt, das Ganze zusammenzusetzen zu einem Puzzle, und zu sagen: Da braut sich was zusammen, und wir müssen mindestens Vorkehrungen treffen. Wir wollen gern versuchen, Kontakt aufrechtzuerhalten, aber bei all diesen Kontakten müssen wir auch zum Ausdruck bringen, dass wir für andere Fälle vorbereitet sind. Das ist unterblieben, und das ist ganz sicher ein Versäumnis.“

Und was für eins. Wenig später sagt Robin Alexander: „Putin dachte doch, dass er diesen Krieg führen kann, und wir machen einfach weiter. (…) Die Frage ist doch: Wieso hatte er diese Idee von uns? Wieso hielt er uns für so korrupt, dass es uns egal ist, wenn er so einen Krieg führt? Dass wir Putin von uns diesen Eindruck vermitteln konnten, dass wir als Gesellschaft so korrupt sind, das ist schon bitter für uns alle.“

22. Juni, Gäste: Politiker Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Sicherheitsexpertin Florence Gaub, Energieökonomin Claudia Kemfert, Publizist Wolfram Weimer
Liegt es daran, dass ich ein halbes Jahr lange jede Folge von Markus Lanz gesehen habe, oder trifft die oft geäußerte Kritik an Talkshows, dass man dort immer wieder auf dieselben Menschen stößt, die ähnliche Dinge sagen, auch hier zu? Die heutige Folge hat etwas von einem Déjà-vu, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, der Publizist Wolfram Weimer, die Sicherheitsexpertin Florence Gaub, alle schon oft bei Markus Lanz gesehen. Ursprünglich sollte noch Ulrike Herrmann von der „taz“ dabei sein, sie musste absagen, weil sie eine Einladung von Sandra Maischberger angenommen hatte.

Ja, Fernsehen hat viel mit wiederkehrenden Mustern zu tun, auch, was die Diskutanten einer Talkshow betrifft. Aber der Grat zwischen „den kenne ich“ und „die schon wieder“ ist schmal, auch bei Markus Lanz, der seine Gäste aus einem gefühlt enger werdenden Kreis rekrutiert. Was wahrscheinlich mit dem thematisch alles dominierenden Krieg in der Ukraine zu hat, um dessen sehr konkrete Folgen für Deutschland es heute geht.

Als zu Beginn ein kurzer Einspielfilm mit Robert Habeck gezeigt wird, fühlt man sich an frühere Sendungen erinnert, in denen Wirtschaftswissenschaftler behauptet hatten, dass ein Ende der Gaslieferungen aus Russland für Deutschland gar nicht so gefährlich wäre. Das hört sich jetzt anders an, wenn der Bundeswirtschaftsminister sagt: „Wir reden hier über eine politische, eine ökonomische Situation, die schlimmer werden kann als die Corona-Pandemie.“ Lanz sagt: „Die Botschaft ist klar, es wird ganz offenbar ungemütlich in Deutschland. (…) Wenn man so eine Ansage macht, das ist hart an der Grenze zum Alarmismus.“ Er nehme die Worte Habecks sehr ernst, so Wolfram Weimer, denn „die Russen haben den Gaskrieg eröffnet“. Und die Energieökonomin Claudia Kemfert erklärt: „Russland setzt schon immer Gas als politische Waffe ein, die haben mehrfach auch anderen Ländern den Gashahn abgedreht. Wir mussten vom 24. Februar an damit rechnen, dass das auch bei uns passiert, und zwar täglich. Das ist nicht in ausreichender Art und Weise passiert, es fehlen die Szenarien. (…) Wir müssen runter mit dem Gasbedarf.“

Weil das der Kern, und damit die Lösung des Problems ist, fragt Lanz, nachdem lange darum gestritten worden ist, wo neue Energie für Deutschland herkommen könnte, ob es nicht besser wäre, am Verbrauch zu sparen. Was, will er von Alexander Graf Lambsdorff wissen, halte die FDP denn zum Beispiel von einem autofreien Sonntag?

Der Politiker sagt: „Ach, ein autofreier Sonntag, kann man mal machen …“

Lanz: „Kann mal machen oder machen wir gesetzlich?“

Lambsdorff: „Herr Lanz, ich würde es nicht national machen, aus einem ganz einfachen Grund. Wir sitzen hier in großen Städten und sagen: Machen wir einen autofreien Sonntag. Aber in der Eifel, im Bayerischen Wald und in der Uckermark, wenn sie dort einen autofreien Sonntag machen, machen sie auch einen omafreien Sonntag, und das muss nicht sein.“

Lanz: „Och, bitte, Herr Lambsdorff, bitte, nicht dieses Argument. Dass jetzt immer die Oma rausgeholt wird … Bitte, wirklich nicht. Das ist wirklich unter unserem Niveau. Echt.“

Lambsdorff: „Überhaupt nicht, das ist das pralle Leben.“

Lanz: „Kommen Sie. Dann besuchen Sie doch Ihre Großmutter am Samstag, wo ist das Problem?“

In dem Ton geht die Diskussion weiter, und obwohl die Gäste alte Bekannte sind, hat die Sendung mehr Tempo als vorhergehende. Was vielleicht auch an einer kleinen, aber nicht unwichtigen Veränderung liegt. Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie sitzen Lanz und seine Gesprächspartner im Studio wieder so eng zusammen wie vor Corona, die Zeiten des großen Abstands zwischen den Stühlen sind offenbar vorbei. Und dass, obwohl am Dienstag der ZDF-Korrespondent Johannes Hano kurz vor Aufzeichnung der Sendung positiv auf das Virus getestet worden war, und deshalb aus einem Extra-Raum im Redaktionsgebäude zugeschaltet werden musste …

23. Juni, Gäste: Politiker Dietmar Bartsch (Linke), Politologin Jessica Berlin, Journalistin Olivia Kortas, Historiker Sönke Neitzel 
Markus Lanz weiß nicht, dass diese Sendung die letzte ist, die ich mir für dieses Projekt ansehe, aber er zeigt im Gespräch mit Dietmar Bartsch noch einmal, was ihn ausmacht. Die geschickte, weil harmlos wirkende Hinführung zu schwierigen Themen (in diesem Fall das Verhältnis der Linken zur Nato), das ständige Nachfragen und Insistieren, die eigene Betroffenheit und Haltung, all das gibt es in einem wenige Minuten dauernden Dialog mit dem Fraktionschef der Linken im Deutschen Bundestag zu beobachten, der, in Auszügen, so klingt:

Lanz: „Wir beide haben uns letztes Mal so ein kleines Scharmützel im Bezug auf die Nato geliefert (…) Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Wie geht es Ihnen eigentlich, auch mit der Geschichte ihrer Partei, ihre Position zur Nato zum Beispiel? Ist die Nato am Ende nicht doch eine feine Sache, wie man jetzt gerade feststellt?“

Bartsch: „Also, ich drehe das jetzt mal um, und kann nur feststellen, dass Putin eins geschafft hat: Dass die Nato eine Sympathieskala nach oben geklettert ist, wie noch nie.“

Lanz: „Auch bei Ihnen, auch bei Ihnen?“

Bartsch: „In Deutschland.“

Lanz: „Aber bei Ihnen?“

Bartsch: „Mein Verhältnis hat sich davor zu jetzt nicht so sonderlich verändert.“

Lanz: „Sie fanden die immer schon gut, die Nato?“

Bartsch: „Nein, ne, … Ich hatte die Hoffnung gehabt, dass nach der Systemkonfrontation sowohl Warschauer Vertrag als auch Nato obsolet werden.“

Lanz: „Aber jetzt ist doch ganz gut, dass wir sie haben, oder nicht?“

Bartsch: „Jetzt ist es doch so, dass in Finnland und in Schweden souveräne Entscheidungen getroffen werden, dass diese Länder Mitglieder werden wollen.“

Lanz: „Finden Sie gut?“

Bartsch: (…) „Dass Schweden nach über 200 Jahren Neutralität sagt, wir wollen jetzt Nato-Mitglied werden, dass ist so ein qualitativer Sprung …“

Lanz: „Verstehen Sie das?“

Bartsch: „Die Linke in Finnland und Schweden, die nun ursprünglich wirklich keine Sympathie für die Nato hatte, dass die dort auch differenzierte Sichten haben, dass dort auch Abgeordnete zugestimmt haben, sagt ja etwas über eine Entwicklung. Wir werden uns in Deutschland wie alle anderen dazu verhalten müssen.“

Lanz: „Sie haben in Ihrer Partei Leute wie Sahra Wagenknecht, die jetzt gerade wieder Schlagzeilen macht, weil sie über die Nato-Provokation nachdenkt.“

Bartsch: „Was die Nato-Aktivitäten nach 1990 betrifft, kann man sicher eine sehr, sehr differenzierte Sicht haben, und ich sage ganz klar: Es war damals nicht klug von Obama, erstens zu sagen, dass Russland eine Regionalmacht ist, und zweitens zu sagen, die Ukraine kommt in die Nato. (…)“

Lanz: „Ich frage mich gerade: Wie schaffen Sie es eigentlich immer, dass es am Ende so gedreht ist, dass doch die Amerikaner schuld sind?“

Bartsch: „Das habe ich wirklich nicht gesagt.“

Lanz: „Doch, doch, das haben Sie gerade. (…) Es sind übrigens genau diese Amerikaner, denen es die Ukraine verdankt, dass sie überhaupt noch da ist.“

Der Historiker Sönke Neitzel mischt sich ein: „Das könnte doch die Linkspartei mal sagen, und sagen ‚Danke, USA‘, dass ihr die Ukraine beschützt habt.“

Lanz: „Das meine ich.“ 

Bartsch: „Ich bedanke mich bei anderen Ländern ziemlich selten, ich sagen nicht mal Danke an Deutschland, oder so, wofür?“

Lanz: „Wirklich nicht? Ich würde ihm aus dem Stand jetzt 20 Gründe nennen, warum ich immer und jederzeit ‚Danke, Deutschland‘ sagen würde, wirklich.“

Das wäre ein schönes Schlusswort, wenn die Politologin Jessica Berlin nicht ganz am Ende der Sendung die wichtigsten Sätze sagen würde, die im ersten Halbjahr bei Markus Lanz gefallen sind und in denen die Antwort auf alle Fragen stecken, die wir uns über die Rolle Deutschlands im Krieg um die Ukraine stellen. Sie lauten: „Es gibt nur eine Bundesrepublik Deutschland, weil Millionen Menschen, von den USA über Kanada bis zur Sowjetunion, damals gegen Hitler und den Nationalsozialismus gekämpft haben. (…) Soldaten aus aller Welt haben ihre Leben gegeben. (…) Es gibt nur eine Demokratie, Frieden und Freiheit in diesem Land, in dem wir aufgewachsen sind, weil andere für uns gekämpft haben.“