Berlin. Der neue Film von „Systemsprenger“-Regisseurin Nora Fingscheidt: Eine packende Suchtgeschichte mit einer herausragenden Saoirse Ronan.


Sie ist ein kleiner, winziger Punkt: die junge Frau, die da ganz allein an der riesigen Steilküste entlangläuft. Wie verloren wirkt sie in dieser weiten, schroffen Landschaft. Und verloren hat sie sich ja auch. Eigentlich ist die verkrachte Biologiestudentin Rona (Saoirse Ronan) hier, am Ende der Welt, um auf einer Vogelwarte einen sehr seltenen Vogel, den Wachtelkönig, zu beobachten. Aber der lässt sich niemals blicken. Und so bleibt genug Zeit in der Einöde, um in sich selbst zu schauen und zu horchen.

Denn die 29-Jährige ist Alkoholikerin, ist immer wieder abgestürzt und hat dadurch auch ihre große Liebe verloren. Nun hat sie es auf sich genommen, zwei Winter an entlegenster Stelle ganz allein, in einer unwirtlichen Gegend in einer schlichten Holzhütte zu hausen. Auf den Orkney-Inseln ganz im Norden von Schottland. Zurück in ihre Heimat, wo sie herkommt und die sie doch hinter sich lassen wollte. Ein radikaler Rückzug nach Papa Westray, der entlegensten der Inseln, wo die Kälte unter die Haut kriecht. Und wo gerade mal 60 Menschen leben, die alle eher verschlossen sind. Eine Bußzeit. Und eine Gratwanderung. Nicht nur an der Steilküste. Auch im übertragenen Sinn.

Bei Nora Fingscheidt geht es immer um innere Dämonen

„The Outrun“ ist der neue Film von Nora Fingscheidt, die 2019 gleich mit ihrem Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ für Furore sorgte und danach sofort eine Weltkarriere startete. Die erst mit Sandra Bullock in Kanada drehte. Und dann mit Saoirse Ronan in Schottland. Und so unterschiedlich ihre Filme auch sind, haben sie doch etwas gemein: Handeln sie doch allesamt von inneren Dämonen und von verletzten, verletzlichen Mädchen und Frauen, die aus der Gesellschaftsnorm fallen und kaum mehr zurückfinden.

Auch interessant

In „Systemsprenger“ ging es um ein neunjähriges Problemkind, das erst seine Mutter und dann auch die Behörden überforderte. Im Netflix-Film „The Unforgiveable“ spielte Bullock einmal ganz ungeschminkt und stark wie selten eine Mörderin, die nach 20 Jahren aus der Haft entlassen wird und doch keine Chance auf Rehabilitation erhält. Und „The Outrun“ ist die Verfilmung des Buchs von Amy Liptrot, das in Deutschland unter dem Titel „Nachtlichter“ herauskam und in dem die schottische Journalistin ihre eigene Suchtgeschichte autofiktional und schonungslos verarbeitet hat.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Youtube, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Ein Leben in Scherben, das Nora Fingscheidt denn auch konsequent genau so zeigt: in Scherben und Splittern. Hier die imposante und doch schroffe Natur, wo das Tosen des Meeres alles andere übertönt, was auch mit lauter Technomusik über Kopfhörer nicht ganz auszublenden ist. Und da lauter fetzenartige Rückblenden, deren zeitliche Reihenfolge sich erst nach und nach ergibt und nur über die wechselnden Haarfarben der Hauptfigur zu erkennen ist.

Bilder im Rausch, wo die Hauptfigur im wilden Nachtleben von London Exzesse feiert, in Clubs und Bars, bis sie aus ihnen herausgeworfen wird. Abstürze und Filmrisse, wenn sie nicht mehr weiß, wie sie nach Hause gekommen ist. Kontrollverlust und aggressives Verhalten, wenn ihr Freund Daynin (Paapa Essiedu) ihr ins Gewissen zu reden sucht. Trotz und Verdrängung, wenn er sie schließlich verlässt, was sie erst recht im Alkohol zu vergessen sucht.

Eine nerdige Buchvorlage, die auch nerdig verfilmt werden musste

Vorerkrankungen in der Familie werden angedeutet. Der Vater (Stephen Dillane), ein Schafzüchter, hat eine bipolare Störung und verfällt immer wieder in Depressionen, woran auch die Ehe mit der Mutter (Saskia Reeves) zerbrach, die seither in einem übersteigerten Glauben Trost und Stärke sucht. Die Tochter sucht das im bewusstseinserweiternden Rausch. Erst als sie im sturzbetrunkenen Zustand brutal missbraucht wird, denkt sie um und begibt sich in Therapie. Weshalb im Film regelmäßig Zahlen eingeblendet werden, die die Tage anzeigen, die sie schon trocken ist. Bis sie einen Rückfall erleidet und wieder bei Null anfängt.

Saoirse Ronan spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern hat den Film auch produziert und damit Suchtprobleme aus dem eigenen Bekanntenkreis verarbeitet. Konsequent heißt ihre Figur nicht mehr Amy, wie im Buch, sondern Rona, in Anspielung auf ihren eigenen Nachnamen.

THE OUTRUN
Ihr Glück währt nur kurz: Rona mit ihrem Freund Daynin (Paapa Essiedu). © Studiocanal | Studiocanal

Ronan hat sich auch Fingscheidt für die Regie gewünscht, nachdem sie „Systemsprenger“ gesehen hat. Fingscheidt hat dann zusammen mit Amy Liptrot das Drehbuch geschrieben. Und lange um die Form gerungen, wie dieses tagebuchartige Buch, in dem die Autorin auch über die physikalische Struktur von Wellen sinnierte, filmisch umzusetzen sei. Bis Fingscheidt klar wurde: Es ist ein nerdiges Buch, das muss auch nerdig erzählt werden.

Und das tut sie, mit vielen Verfremdungsmöglichkeiten. Bilder, die wie das Bewusstsein verschwimmen. Einblendungen von Trickfilmen und Dokumentarbildern. Ronans Stimme aus dem Off, die von Mythen der Orkney-Inseln erzählt. Und auf der anderen Seite immer wieder die Naturgewalt der übermächtigen Kulisse der Insel, die zur zweiten Hauptfigur wird und eine ganz eigene Bilderpoesie entwickelt.

„The Outrun“: Ein Film, den man gesehen haben muss. Und den man im Kino sehen muss

All das macht dieses Drama schon besonders und stark. Es lebt aber vor allem von Hauptdarstellerin Saoirse Ronan. Die junge Irin hat man gerade erst im Kriegsdrama „Blitz“ gesehen als Mutter, die ihr Kind aufs Land verschicken muss, und schon liefert sie ihre nächste Ausnahme-Performance. Es gibt keine Szene, in der sie nicht zu sehen ist, den Großteil des Films muss sie ganz allein tragen.

Auch interessant

Aber das gelingt ihr mühelos. Weil sie nicht nur ein großes darstellerisches Talent besitzt, sondern auch über eine Präsenz und Durchlässigkeit verfügt, die man nicht erlernen kann, die man hat oder nicht. Saoirse Ronan hat sie. Immer wieder scheint man direkt durch sie hindurchzuschauen, direkt in ihre Seele. Eine so zarte, verletzliche Person, die dann wieder ganz taff und lebensbejahend ist. Ein Film, der einen packt. Den man gesehen haben muss. Und den man, wegen der grandiosen Landschaftsbilder, auch unbedingt im Kino sehen muss.

Drama, GB/E/D 2024, 118 min., von Nora Fingscheidt, mit Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves