Hamburg. Wie der Reporter über Jahre fälschte. Warnungen aus der “Spiegel“-Redaktion ignoriert. Jetzt soll auch ein Zufallsgenerator helfen.

Im Atrium des Hamburger „Spiegel“-Hauses an der Ericusspitze bauten Techniker noch Lautsprecher ab – hier hatte die Chefredaktion am Morgen die Belegschaft informiert. Um 14 Uhr legte dann die vom Verlag eingesetzte Kommission in einer Pressekonferenz den Bericht über den „Fall Relotius“ vor. Fünf Monate hatten drei Journalisten versucht, die Hintergründe eines der größten Fälschungsskandale der deutschen Mediengeschichte aufzuklären. Der Abschlussbericht findet sich auch im aktuellen „Spiegel“ auf 17 Seiten.

Wie angespannt die Stimmung beim Nachrichtenmagazin derzeit ist, zeigten zwei Bitten: Bei der Powerpoint-Präsentation durfte nicht gefilmt werden. Zudem wurden alle Journalisten aufgefordert, Zitate der Protagonisten vorab für eine Autorisierung zu mailen, bei Pressekonferenzen ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wer ist Claas Relotius?

Der Hamburger, geboren am 19. Dezember 1985, studierte Politik- und Kulturwissenschaften in Bremen und Valencia, dann an der Hamburg Media School. Er arbeitete als freier Journalist (vor allem für den „Spiegel“, aber auch für „Welt“ und „SZ-Magazin“). 2017 wurde er fest angestellter Redakteur beim „Spiegel“. Für seine Berichte erhielt Relotius laut „Spiegel“ etwa 40 Preise. Als sich die Fälschungsvorwürfe gegen ihn erhärteten, reichte er am 19. Dezember beim „Spiegel“ die Kündigung ein. Öffentlich ist er seitdem abgetaucht. Per SMS hat er sich bei der Reporterpreis-Jury entschuldigt. Sein Anwalt lehnte ein von der Kommission gewünschtes Gespräch ab.

Was wird Relotius vorgeworfen?

Laut „Spiegel“ hat der Reporter mit „hoher krimineller Energie getäuscht“. Er habe viele Protagonisten seiner Geschichten nie getroffen, Dialoge und Zitate frei erfunden.

Wer gehörte der Kommission an?

Stefan Weigel, seit Januar Nachrichtenchef der integrierten Spiegel-Redaktion; Brigitte Fehrle, freie Journalistin, von 2012 bis 2016 Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“. Clemens Höges verließ die Kommission im April nach der Berufung in die Chefredaktion des Blattes.

Wie flog der Betrug auf?

Der freie Reporter Juan Moreno recherchierte mit Relotius eine Geschichte über eine Bürgerwehr an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Moreno wurde misstrauisch, als er die Passagen von Relotius vor Veröffentlichung las, meldete die Bedenken seinen Chefs. Die blieben jedoch weiter auf der Seite von Relotius, obwohl es bei früheren Relotius-Geschichten schon Warnhinweise von Protagonisten (Leserbrief, Twitter) gegeben hatte. Auf eigene Faust sammelte Moreno Material. Nach anfänglichem Leugnen gab Relotius seine Lügen zu.

Warum versagten die „Spiegel“-Sicherungssysteme?

Laut Kommission hat Relotius seine Kollegen „umgarnt“. Der Reporter galt intern als „stiller, eher zweifelnder Typ“, „sympathisch, freundlich zu jedermann“. Seine Beliebtheit habe in „Dokumentation und Redaktion zu mangelhafter kritischer Distanz geführt“. Zudem habe er sich gegen den Abdruck von kritischen Leserbriefen ausgesprochen, Übersetzung in den englischsprachigen „Spiegel“-Dienst verhindert, wohl aus Sorge, aufzufliegen - seine Recherchen fanden vor allem im Ausland statt.

Massiv begünstigt wurden die Täuschungen allerdings durch seine Förderer Matthias Geyer und Ullrich Fichtner. „Das Verhältnis zu Relotius war geprägt von absolutem Zutrauen, zum Teil Bewunderung“, heißt es im Bericht: „Der Fall wurde behandelt, als ginge es nur um das Gezänk zwischen einem freien Reporter und dem Nachwuchsstar des Ressorts – und nicht um einen Verdacht, der dem ganzen Unternehmen schaden könnte.“ Deshalb habe Relotius auch noch für eine Titelgeschichte über den Klimawandel aus dem pazifischen Inselstaat Kiribati zuliefern können, dort war er nie. Eine Rolle spielte laut Bericht auch der Druck im Ressort, Journalistenpreise zu gewinnen. „Aber darum geht es nun mal in unserem Ressort“, habe ein Ressortleiter gesagt.

Welche personellen Konsequenzen zieht der „Spiegel“?

Klusmann sagte, dass er darüber mit den betroffenen Kollegen reden wolle. Geyer arbeitet inzwischen als Redakteur für besondere Aufgaben, Fichtner als Reporter mit besonderen Aufgaben. Klusmann ließ auch offen, ob er das Gesellschaftsressort auflösen werde – diese Option wird im Untersuchungsbericht genannt.

Welche Mängel werden noch genannt?

Der Bericht nennt zwei weitere Geschichten eines freien Autors „massiv verfälscht“. Dieser habe etwa eine „Spiegel“-Geschichte von 1958 „abgekupfert und in Teilen verändert“. Der Bericht rügt zudem in anderen Fällen „journalistische Unsauberkeiten“ wie Weglassungen aus dramaturgischen Gründen. Dabei handele es sich aber ausdrücklich nicht um Fälschungen.

Was ändert sich sonst beim „Spiegel“?

Dokumentare sollen nicht mehr so eng an die Redaktion gebunden werden, wie dies bei der Gesellschaft der Fall war. Ein Zufallsgenerator soll vor Abdruck entscheiden, welche Geschichte besonders intensiv geprüft wird, bis hin zu den Notizen und Fotos des Reporters. Eine unabhängige Ombudsstelle soll allen Hinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen.