Berlin. Zeitgeschichte als Thriller: In „Deutschland 83“ wird ein NVA-Soldat in die Bundeswehr eingeschleust und muss den Atomkrieg verhindern.
Manchmal geht das Fernsehen seltsame Wege. Da produziert RTL eine Serie über ein brisantes, grunddeutsches Thema, das man so eher in der ARD vermutet hätte. Und wo wird sie zuerst ausgestrahlt? In den USA. Noch nie hat eine deutsche Serie ihre Premiere im amerikanischen Fernsehen erlebt. Wenn auch, zugegeben, auf dem relativ kleinen Bezahlsender Sundance TV.
Aber die „New York Times“ berauscht sich an der Serie. Nennt sie gar aufregender als US-Serien wie „House of Cards“. Und die anderen Medien fallen in das Loblied mit ein. Zum ersten Mal gelingt es einer deutschen Serie, die USA zu erobern – und nicht umgekehrt. Und dabei ist „Deutschland 83“, wie der „Independent“ meint, nur „die Spitze des Eisbergs – plötzlich scheint die ganze Welt deutsches Fernsehen sehen zu wollen.“
Die Perspektive von Nazi-Leuten
Ganz schöne Vorschusslorbeeren. Da wartet man jetzt gespannt, wie die Deutschen auf „ihre“ Serie reagieren werden, wenn sie ab dem heutigen Donnerstag ausgestrahlt wird.
Die von Nico Hofmann produzierte Serie ist dabei ähnlich provokativ wie Regina Zieglers „Weissensee“. Schon wieder wird man in die Perspektive von Stasi-Leuten gezwungen. „Deutschland 83“ geht dabei sogar noch eine Spur weiter: Hier wird ein Junge dazu gezwungen, für sein Land zu spionieren.
Statt in Kleinmachnow wacht NVA-Soldat in Bonn auf
Eigentlich will dieser junge Martin Rauch (Jonas Nay) nur seine Zeit als NVA-Soldat abdienen und träumt davon, mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Bis seine kühl kalkulierende Tante von der HVA (Maria Schrader) mit ihrem Chef (Sylvester Groth) vor der Tür steht.
Martin passt exakt auf die Vita eines westdeutschen Bundeswehrsoldaten, dessen Identität er annehmen soll. Nur Klavier spielen kann er nicht, weshalb ihm der HVA-Mann erst mal einen Finger bricht. Doch Martin kann kaum protestieren oder aufschreien, da ist er schon betäubt. Und wacht statt in Kleinmachnow in Bonn auf.
Nato plant geheimes Manöver
In Panik rennt der Junge weg und landet in einem Supermarkt voller Waren, die es drüben, bei ihm Zuhause, niemals gibt. Vor der Obst-Auslage steht er wie betäubt – und wird wieder eingefangen. Fortan wird Martin erpresst: Seine Mutter ist Dialyse-Patientin und braucht eine Nierentransplantation in der Charité. Die kriegt sie nur, wenn er spurt.
So wird er widerwillig zu Moritz Stamm, Deckname Kolibri. Wird Ordonnanzoffizier bei General Eldes (Ulrich Noethen) und soll Nato-Dokumente zur Stationierung von Pershing-II-Raketen kopieren. Dabei findet er heraus, dass die Nato ein geheimes Übungsmanöver namens „Able Archer“ plant, was so viel wie „Tüchtiger Bogenschütze“ heißt.
Serie beruht in Teilen auf wahren Ereignissen
Damit will das transatlantische Bündnis seine Reaktionsfähigkeit bei einem möglichen Angriff von Truppen des Warschauer Paktes testen. Aber der tüchtige Bogen wird dabei derart überspannt, dass Moskau und Ost-Berlin das Manöver für Vorbereitungen auf einen wirklichen Erstschlag halten.
Klingt nach einem alten James-Bond-Plot. Einer muss mal wieder im Alleingang die Welt retten. Das Schockierende an dieser Serie ist aber, dass sie zu großen Teilen auf wahren Begebenheiten beruht. Noch immer gilt ja die Kuba-Krise und die Schweinebucht 1962 als schlimmste Zuspitzung des Ost-West-Konflikts mit seinen Blöcken. Aber die heißeste Phase erlebte der Kalte Krieg wohl 1983, als die Welt nur ganz knapp an einem Atomkrieg vorbeischrammte. Das kam erst Jahre später ans Licht.
Am Ende war es nur ein Computerfehler
Am 1. September 1983 hatten sowjetische Abfangjäger eine koreanische Boeing mit 269 Menschen an Bord abgeschossen – weil sie dachten, es handele sich um ein US-Spionageflugzeug.
In der Nacht auf den 26. September war es nur der Besonnenheit des Oberstleutnants der russischen Raketentruppen, Stanislaw Petrow, zu verdanken, dass ein Atomschlag verhindert wurde. Weil er die Meldung des sowjetischen Raketenfrühwarnsystems, dass US-Raketen im Anmarsch seien, für das hielt, was es war: einen Computerfehler.
Erst vor zwei Jahren wurde die Dokumente veröffentlicht
Und in dieser aufgeheizten Stimmung wurde mit der europaweiten Nato-Kommando-Stabsübung „Able Archer“ vom 7. bis 11. November 1983 ein Atomkrieg simuliert. Der Topspion Rainer Rupp, der unter dem Decknamen „Topas“ in die Bundeswehr eingeschleust worden war, hatte zwar Entwarnung gegeben, dass dies wirklich nur eine Übung sei, die Führung in Moskau aber wollte das nicht glauben.
Die sowjetische Seite hat nie offiziell bestätigt, dass sie militärische Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Vor zwei Jahren aber hat der britische „Guardian“ Dokumente veröffentlicht, die offenbarten, wie haarscharf es nicht zur Eskalation kam. Als Lehre aus dieser Zuspitzung sollen die Hochrüster Ronald Reagan und Margaret Thatcher ihre Hardliner-Politik gegenüber der Sowjetunion modifiziert haben.
Junger Mann statt Top-Agent
Ein Kapitel jüngster Zeitgeschichte, das trotz der „Guardian“-Enthüllungen noch immer weitgehend unbekannt ist. Und im allgemeinen 80er-Jahre-Retro-Kult, der sich nur an schlimmen Frisuren und schrägen Popsongs delektiert, untergegangen ist. Es brauchte erst eine Amerikanerin, die Autorin Anna Winger, um das Potenzial dieser Geschichte zu erkennen – und daraus, mit ihrem Mann, dem deutschen Produzenten Jörg Winger, eine Serie zu entwickeln.
Hier ist es nun kein Top-Agent, der die Weltmächte in ihrer Eskalationswut aufhält. Sondern ein fiktiver, junger Mann, der in wenigen Tagen das Spionieren im Schnelldurchlauf lernt, immer wieder Patzer begeht und dauernd fürchten muss, dass seine Tarnung auffliegen könnte. Das ist dramaturgisch natürlich wesentlich reizvoller. Weil das Publikum sich mit dem unbedarften Jungen sofort identifiziert und, auch gegen die eigene Überzeugung, mit ihm zittert und schwitzt.
Bald gibt es erste Tote
In jeder der acht Folgen wird dieser „Kolibri“ aufs Neue in eine haarsträubende, eigentlich ausweglose Situation gestürzt. Dabei kommt es bald zu ersten Toten. Und es werden noch weitere Konflikte geschürt: der Sohn (Ludwig Trepte) des Generals, der ebenfalls Soldat ist, sich aber der Friedensbewegung anschließt.
Ein Jura-Professor (Alexander Beyer), der vor seinen Studenten den Anarcho macht, aber heimlich Stasi-Spitzel führt. Die Freundin im Osten (Sonja Gerhard), die sich irgendwann zum eigenen Vorteil der Stasi andient. Und der HVA-Mann (Sylvester Groth) der sich zunehmend in seiner Rolle als Anheizer gefällt und beim KGB Speichel leckt.
Beklemmendes politisches Klima
Das Ganze wird mit der richtigen Portion Zeitgeist aufbereitet. Nicht zu aufdringlich, aber doch zum Wiedererkennen darf man sich an Schlaghosen und Netzhemden erfreuen, an Walkman und Telefonen mit Wählscheiben, überall erschallen die poppigen Lieder der Neuen Deutschen Welle, Nenas „99 Luftballons“ – sowohl auf der Ost-Gartenparty wie in der West-Kaserne.
Aber zu alledem flimmern auch unentwegt „Tagesschau“ und „Aktuelle Kamera“ auf den Monitoren und machen das beklemmende politische Klima jener Zeit spürbar. Auch die Friedensbewegung und eine neue Seuche namens Aids spielen eine Rolle.
Einmaliger Siegeszug der Serie
„Deutschland 83“ verdichtet jüngste Zeitgeschichte zu einem spannungsvollen Thriller. Mit einem grandiosen Schauspieler-Ensemble, allen voran Jonas Nay als Kolibri. Mit bester Ausstattung. Mit gleich zwei Regisseuren, dem Lola-gepriesenen Edward Berger und der Nachwuchsregisseurin Samira Radsi. Und einem ganzen Autorenteam.
Und da hat das deutsche Fernsehen plötzlich eine großartige Produktion. Eine Vorzeigeserie, die ein Vakuum zu füllen scheint. Und einen einmaligen Siegeszug antritt. Angefangen auf der Berlinale im Februar, wo die ersten Folgen als Special gezeigt wurden. Über die US-Ausstrahlung im Juni. Bis zum Séries-Mania-Festival in Paris, wo „Deutschland 83“ als „beste Serie der Welt“ ausgezeichnet wird.
Deutsches Fernsehen schließt auf
Es scheint ein deutsches Minderwertigkeits-Gen zu geben, dass man das hiesige Fernsehen immer runterputzt und neidisch auf US-Formate guckt. Und sich frenetisch freut, wenn mal eine US-Staffel wie „Homeland“ komplett in Berlin gedreht wird. Dabei zeigen der Emmy für „Unsere Mütter, unsere Väter“ und der internationale Erfolg von „Weissensee“ und jetzt „Deutschland 83“, dass sich das deutsche Fernsehen wirklich nicht zu verstecken braucht.
Es sucht sich neue Wege, wie auch das mit Spannung erwartete Projekt von Tom Tykwers „Babylon Berlin“ signalisiert, bei dem sich erstmals überhaupt ein öffentlich-rechtlicher Sender mit einem Bezahlsender zusammen tut. Das deutsche Fernsehen schließt auf.
Serie muss sich nun in Deutschland beweisen
Vielleicht ist der Erfolg von „Deutschland 83“ ja auch mit seinen Produktionsbedingungen zu erklären. Dass mit Anna Winger von Anfang an ein sehr amerikanischer Blick vorgegeben war. Dass sie mit einem ganzen Autorenteam zusammengearbeitet hat. Dass früh auch ausländische Produzenten mit an Bord waren. Und das Ganze eine wirkliche Handschrift trägt, die nicht von Fernsehredakteuren zerredet und verwässert wurde.
Nun muss sich „Deutschland 83“, fünf lange Monate nach dem US-Start, allerdings noch in seiner Heimat beweisen ob all der Vorschusslorbeeren. Dabei muss sich der Achtteiler am Donnerstagabend auf einem schwierigen Sendeplatz behaupten, an dem normalerweise in „Alarm für Cobra 11“ spektakulär Autos in die Luft fliegen. Allein das Interesse im Ausland aber garantiert vermutlich ein Weitermachen. Anna und Jörg Winger haben von Anfang an drei Staffeln gedacht. „Deutschland 86“ und „Deutschland 89“ werden folgen.
8 Folgen ab Donnerstag, ab 26. November immer donnerstags je zwei Folgen 20.15 Uhr und 21 Uhr, RTL