Hamburg. „Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis schreibt über ihre Harburger Herkunft. Eine Begegnung mit der „Königin der bunten Tüte“.

Die dunklen Haare zum Zopf gebunden, ungeschminkt, kein Blazer. Das reicht schon, um im Hamburger Café Hadley’s entspannt inkognito sitzen zu können. Linda Zervakis lacht. „Der Blazer ist wie ein Arztkittel. Mich erkennt fast nie einer, wenn ich in Zivil unterwegs bin“, sagt sie. Und nicht das kleinste bisschen Eitelkeit scheint ihr die Freude dieses Nicht-erkannt-Werdens zu trüben. Der Vorteil liegt auf der Hand: auch als „Tagesschau“-Sprecherin, die um 20 Uhr verlässlich und ­proper in die deutschen Wohnzimmer strahlt, morgens – ohne dass diese ­Bilder später in irgendwelchen sozialen Netzwerken auftauchen – über dem Kinderwagen hängen zu können zum Beispiel. Todmüde, weil das Baby nachts wieder alle zwei Stunden Tango getanzt hat.

Eine „Tagesschau“-Sprecherin hat, anders noch als andere Prominente, eine eigenartige Position. Sie ist vertraut und dennoch unnahbar. Der Zuschauer teilt ein Ritual mit ihr, lässt sie jeden Abend in die heimischen vier Wände, lässt sich von ihr die Welt erklären und zum Wetter geleiten. Sie bleibt bei alldem höflich auf Distanz. „Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Bricht diese Seriosität auf, geht es zuweilen merkwürdig zu, man denke nur an Eva Herman. Natürlich steigt auch Judith Rakers hin und wieder aus der „Tagesschau“-Kulisse, um eine Show zu moderieren oder einen roten Teppich zu schmücken. Die Fassade jedoch bröckelt dabei nicht. Und was weiß man schon von Jan Hofer, Susanne Daubner oder Thorsten Schröder?

Linda Zervakis hat sich jetzt weiter herausgewagt. Sie ist nicht mehr nur Sprecherin, sie ist die „Königin der bunten Tüte“. Ein „Ausflug“ sei das, winkt sie ab, sie wolle sich „um ­Himmels Willen“ jetzt „bloß nicht“ als Schriftstellerin bezeichnen. Tatsächlich sind ihre „Geschichten aus dem Kiosk“ kein Roman, sondern eine – hier dramaturgisch gestraffte, dort erzählerisch erweiterte – Autobiografie. Linda Zervakis lässt sich selbst in die Vergangenheit schauen.

Und welch ein Glück, dass sie das tut, denn die Tochter griechischer Einwanderer, hat tatsächlich einiges zu erzählen. So wie sie „heute in die Wohnzimmer der Nation guckt, hat sie früher aus dem Kiosk ihrer Eltern in Hamburg-Harburg geschaut“, wirbt der Klappentext für das Buch. Mit dem feinen Unterschied, dass die große Linda ihr Publikum nur vermuten kann, die kleine Linda aber durchaus einen lebhaften Einblick in die Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins erhielt.

„Ein Ausflugsziel zum Überleben“ nennt Zervakis die Harburger Hochhaussiedlung, in der sie im elterlichen Kiosk hinter dem Tresen stand, noch bis sie 30 war, ein Ort, an dem es, wie Zervakis heute mit sanftem Lächeln sagt, zuweilen „etwas rauer zuging“. Da werden nicht nur „bunte Tüten“ aus Groschen-Süßigkeiten verkauft, da ist Weinbrand der Bestseller auch zum Frühstück, da machen rassistische Witze die Runde, da fällt eine Nachbarin aus dem siebten Stock in die Hagebutten, da tritt die Heranwachsende einem Exhibitionisten kräftig ins Gemächt, und wer seine Brötchen ein paar Tage nicht holte, „war meistens schon tot“.

„Wir fühlten uns ein wenig wie im Backstage-Bereich der deutschen Gesellschaft“, fasst Zervakis das lakonisch zusammen. Eine im engeren Sinn behütete Kindheit hatte sie nicht, das muss man wohl so sagen, eine unglückliche aber eben auch nicht. „Disziplin und Schichtdienst“ habe sie gelernt, sagt Linda Zervakis. Ihre markanten Augenbrauen (die im Buch durchaus eine Rolle spielen) zieht sie dabei eine Spur nach oben, lange nicht so süffisant wie die Kolleginnen Miosga und Will. Als „erste Sprecherin mit Migrationshintergrund“ wurde sie damals eingeordnet, als sie bei der „Tagesschau“ begann. Natürlich hat sie auch dazu Geschichten zu erzählen. Dass sie manchmal die Übersetzungs-App im iPhone bemühen muss, zum Beispiel, wenn sie mit ihren eigenen Kindern Griechisch sprechen möchte. Und dass sie das Wort „Migrationshintergrund“ „ziemlich daneben“ findet, übrigens sei auch das steigerungsfähig: „Susanne Daubner war ,die erste brünette Sprecherin‘. Irgendwas ist es halt immer.“ Herzliches Lachen.

Linda Zervakis wirkt wie ein geerdeter, pragmatischer Mensch. „Als Freundinnen von mir schwanger wurden und seufzten: Endlich Verantwortung übernehmen! habe ich gedacht: Verantwortung? Hab ich schon lange!“ Über Pflichtgefühl und Familiensinn kann man von Linda Zervakis, die sich für ihr Buch von ihrem Mann interviewen ließ, um dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, einiges lernen. Zum Studieren hätte sie nach Berlin gehen können. Gehen müssen. Ist sie aber nicht, auch keiner ihrer beiden Brüder – sie konnten und wollten die Mutter in Harburg nicht mit dem Kiosk allein lassen. Der Vater starb, als Linda 14 war. Es ist – auch – eine Mischung aus Fatalismus und Optimismus, die die heute 40-Jährige auszeichnet, sie strahlt keine Bitterkeit aus, sondern Zugewandtheit und Lebensfreude. Müde Lebensfreude vielleicht, so wie die meisten Mütter kleiner Kinder.

Auf YouTube ist festgehalten, wie sie, die seit 2013 die 20-Uhr-Nachrichten moderiert, einmal am Namen des Bayern-Trainers Guardiola charmant scheitert und einmal Zwitter statt Twitter sagt. Keine weltbewegenden Peinlichkeiten. In einer Talkshow hat sie sich einmal dazu hinreißen lassen, den Berufsalltag nach der Babypause als „Urlaub“ zu bezeichnen. Die meisten arbeitenden Mütter wissen wohl sehr genau, was sie damit gemeint hat. Wenn man will, kann man das jedoch auch falsch verstehen. „Ich habe selten so viele Reaktionen auf irgendetwas bekommen!“, ruft Linda Zervakis, lacht und schlägt die Hände vors Gesicht.

Wer ihr Buch liest, dem wird Linda Zervakis künftig neu begegnen, wenn sie um 20 Uhr zur „Tagesschau“ ­begrüßt. Im Blazer, seriös, „Guten Abend, meine Damen und Herren“. Aber die Fassade hat plötzlich eine ganz andere Tiefe. Sie ist nicht mehr nur das schöne Gesicht der Nachrichten. Sie ist Linda Zervakis, Hamburgerin, Griechin, „Königin der bunten Tüte“.

Linda Zervakis: „Königin der bunten Tüte“, Rowohlt Polaris, 223 Seiten, 14,99 Euro