Hamburg. Studie und Klaus von Dohnanyi rügen „Unsachlichkeit“ und „Emotionalität“ in der deutschen Berichterstattung über Ungarn.
Das Bild Ungarns hat in der deutschen und internationalen Presse gelitten. Genauso wie bei politischen Organisationen von der EU über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bis hin zur UN-Menschenrechtskommission, kurz UNHCHR. Seit Viktor Orbán 2010 seine zweite und im vergangenen Jahr seine dritte Amtszeit als Regierungschef des Zehn-Millionen-Einwohner-Staats angetreten hat – beide mit einer Zweidrittelmehrheit – gab es in Ungarn viele Veränderungen, die weitreichende oder gleich pauschal formulierte Kritik hervorriefen.
Im Frühjahr 2013, so erzählt es der Historiker Gereon Schuch von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) am Freitag im Hanseclub unweit des Rathauses, sei deswegen der Entschluss gefallen, eine Studie zur Berichterstattung über die ungarische Politik anzufertigen. „Kritische Reflexionen“, die die Diskussion „versachlichen“ sollten, wie er sagt. Unter Vorsitz des ehemaligen Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi analysierten Schuch, Ágnes Gelencsér und Dániel Hegedüs deutsche Zeitungsartikel der letzten Jahre zu neun verschiedenen Politik-Komplexen auf ihre Aussagen hin. Nun präsentierten sie ihre Ergebnisse auf knapp 30 von der DGAP herausgegebenen Seiten.
Ihr Fazit nach der Betrachtung so unterschiedlicher Themen wie rechtsstaatlichen Grundsätzen, dem Umgang mit Medien und dem mit Minoritäten: Ungarn sei „auch heute ein freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat, in dem weder die Presse zensiert wird noch die Regierung Orbán den Antisemitismus fördert“. Auch die Unabhängigkeit der Gerichte sei weiterhin gegeben. Das UNHCHR kam hingegen zu dem Schluss, von Orbáns Regierung angestrebte Verfassungsänderungen in Bezug auf das Verfassungsgericht seien als „Gefahr für den Rechtsstaat insgesamt“ zu werten.
Dass man sich – trotz einiger Kritik – letztlich auf die Seite Orbáns schlug, scheint nur wenig überraschend. Die Ausgangsthese der Forscher und des Altpolitikers von Dohnanyi war schließlich, Ungarn würde medial ungerecht behandelt. Nicht umsonst sprechen Schuch und von Dohnanyi immer wieder von „Unsachlichkeit“, von „Emotionalität“, von einer „nicht wirklichkeitsgetreuen Abbildung“ der ungarischen Zustände. Und der ehemalige Erste Bürgermeister betont nachdrücklich, man habe nach der „Wahrheit“ gesucht.
Was folgt – verbal beim Vortrag der Ergebnisse und schriftlich in der Studie – sind überwiegend Relativierungen, Vergleiche mit anderen Staaten, die in bestimmten Bereichen ähnliche oder gleich geartete Defizite hätten. Zudem müsse man die Geschichte Ungarns und seine kulturellen Eigenheiten im Blick behalten, wolle man Orbáns Regierungsstil tatsächlich verstehen.
Für den wuchernden Antisemitismus, dem Orbáns Partei tatsächlich nach Kräften zu begegnen versucht, der aber von der drittstärksten Partei im Budapester Parlament, der Jobbik, umso vehementer vertreten wird, findet von Dohnanyi ebenso Erklärungen wie für die Betonung des Ungarischen als Wert an sich. Alles lässt sich aus der Geschichte herleiten, aus den Besetzungen Ungarns, aus der sprachlichen Fremdheit des Ungarischen im Vergleich zu seinen Nachbarn. Und aus dem Wunsch nach Bewahrung der eigenen Identität.
Von Dohnanyis Betrachtungen über die ungarischen Eigenheiten gipfeln in der Feststellung, Roma-Kinder in eigenen Schulklassen zu unterrichten, wie es jüngst von der ungarischen Regierung eingeführt wurde – „als Experiment offenbar“ – sei nicht mehr als die Manifestation einer „pädagogischen Frage, die die ganze Welt beschäftigt“. Der Frage danach, ob man bei unterschiedlicher Ausgangslage sofort zusammen lernen, oder den „Nachholbedarf in besonderer Weise“ erst einmal ausgleichen solle.
Abgesehen von solchen unreflektierten Gleichstellungen von Inklusionsbemühungen auf der einen und Segregation auf der anderen Seite: Die „Kritische Reflexion“ krankt besonders daran, dass sie die Gesamtsituation aus dem Blick verliert. Im Versuch, einzelne Entscheidungen auf andere Art zu beleuchten, sie mit ähnlichen Vorgängen in Staaten wie Großbritannien, den USA oder Frankreich zu vergleichen, ignorieren die Forscher, dass es nicht die einzelnen Gesetze, Initiativen und Machtdemonstrationen sind. Einzelne Facetten der Gesamtlage mögen auch in anderen Staaten ein Problem sein. Dass große Teile Europas und der Welt in Gestalt ihrer Presse, ihrer politischen und Nicht-Regierungsorganisationen immer ablehnender gegenüber Ungarn auftreten, resultiert vielmehr aus der Betrachtung des Ganzen, das in diesem Fall tatsächlich größer als die Summe der Einzelteile ist.
Aber das spielte am Freitag – und in der Studie – keine Rolle. Es mag seinen Grund haben, dass weder die Referenten, noch die geladenen Gäste rund um Honorarkonsulin Eva-Maria Greve den jüngsten Vorstoß Orbáns ansprachen, seine einseitige Rücknahme des Dublin-III-Abkommens zur Aufnahme von Flüchtlingen und die Idee, einen vier Meter hohen Zaun an der Grenze Ungarns zu Serbien zu errichten. Dabei gehört auch das zur Wahrheit über Ungarns Politik und deren Folgen. Genau wie die Tatsache, dass sich mit Hegedüs einer der Autoren der Studie von ihr distanziert hat. Zum einen, so erläutert er es am Freitag auf Nachfrage aus dem Publikum, weil die Ergebnisse von der Regierung Orbán instrumentalisiert werden könnten. Und zum anderen, weil man damit Ungarn in „vielen fundamentalen Fragen“ zu „pauschale Freisprüche“ erteilt habe.