Die Verurteilung von Harry Wörz im Jahr 1997 und die anschließenden Prozesse zählen zu den größten deutschen Justizirrtümern. Der Film von Till Endemann erzählt im „Ersten“ chronologisch die Verhandlung nach.
Der deutsche Event-Film, der etwas auf sich hält, ist hierzulande nicht mehr denkbar ohne Begleitrauschen. Dokumentation gleichen Kalibers im Schlepptau, Talkrunde bei MaischbergerPlasbergWill im Anschluss. Dass es sich bei der Filmhandlung um eine sogenannte „wahre Begebenheit“ handelt, ist zwar nicht Voraussetzung, aber von Vorteil für das Event-Etikett. Nicht nur die Öffentlich-Rechtlichen fahren gut auf dieser Fernsehen-trifft-Gesellschaft-Schiene, die ja letztlich ihrem Programmauftrag mehr entspricht als kaugummibuntes Herzschmerzgesumme und Krimis vom Berggipfel bis ins Zehn-Mann-Fischerdorf. Der Privatsender Sat.1 hat sich ebenfalls entschlossen, seinem im Februar ausgestrahlten TV-Movie „Der Rücktritt“ über die Causa Wulff mit einer umfassenden Dokumentation Diskussionsanstöße und Gewicht zu verleihen.
Auch „Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“ bekommt vom Ersten eine Gesprächsrunde nach dem Abspann spendiert. Was in diesem Fall besonders nachvollziehbar ist. Der Film von Regisseur Till Endemann („Flug in die Nacht — Das Unglück von Überlingen“) ist nicht etwa ein besonders gut gemachtes Fernsehspiel, sondern ein Stück deutsche Justizgeschichte, das den Zuschauer immer wieder fassungslos den Kopf schütteln lässt über abenteuerliche Verfahrensfehler, Ermittler mit experimentierfreudiger Auslegung von richtig und falsch sowie einer Spurensicherung mit der Sensibilität einer Elefantenherde. In Deutschland wohlgemerkt, nicht etwa in der Volksrepublik China. Dass das Leben oft die besten (in diesem Fall: unglaublichsten) Geschichten schreibt — von dieser Tatsache profitiert „Unter Anklage“ über 90 Minuten hinweg. Dass sich die Macher auf dramaturgischer Ebene entspannt zurückgelehnt haben, keinerlei Erzählinstrumente bemühen, sondern die Wirklichkeit bis aufs I-Tüpfelchen nachbuchstabieren, ist die weniger gute Nachricht in diesem Gerichtsdrama. Der Film braucht sensationell knackige drei Minuten bis zur Verhaftung des vermeintlich Schuldigen. In den frühen Morgenstunden des 29. April 1997 wird Harry Wörz, dem das Frühstücksmüsli noch in den Schnurrbarthaaren klebt, in seinem Haus festgenommen. Er soll seine Frau, die mit dem gemeinsamen Sohn von ihm getrennt lebt, im Streit mit einem Schal gewürgt und lebensbedrohlich verletzt haben. Wer ihr dies angetan hat, wird die junge Polizistin Silke nicht mehr sagen können; ihr Gehirn ist durch die Strangulation bleibend geschädigt.
Doch für Polizei, Staatsanwalt und Medienöffentlichkeit steht der Täter ohnehin fest: Harry Wörz, Installateur aus einfachen Verhältnissen. Unauffällig bis nachlässig gekleidet, das Gegenteil des geborenen Rhetorikers; einer, der früher auf dem Pausenhof wahrscheinlich still am Rand des Getümmels stand oder in die Pfütze geschubst wurde. Der typische Lebensverlierer. Ein Sündenbock, wie man ihn sich schöner nicht backen könnte. Heute ist er für viele ein Held.
Rüdiger Klink verkörpert Harry Wörz mehr, als dass er ihn spielt. Mit breitem (für norddeutsche Ohren gewöhnungsbedürftigem Pforzheimer Akzent) kämpft er sich, bereits hinter Gittern, durch den Paragrafendschungel und Hunderte Aktenseiten, aus denen er auswendig zitieren kann; beweist noch Stehaufmännchenqualitäten, als Familie und Verteidigung die Hoffnung längst aufgegeben haben.
13 Jahre seines Lebens wird Harry Wörz mit Gefängnisaufenthalten, Revision und neuerlichen Prozessen verbringen. Dass er in Wahrheit unschuldig ist, daran lässt Endemanns Film keinen Zweifel aufkommen. Seine Spannung bezieht er ohnehin nicht aus der Suche nach möglichen Tätern, sondern aus der schier übermenschlichen Kraft, die Wörz und sein Kleine-Leute-Anwalt Hubert Gorka — dargestellt von dem Stuttgarter „Tatort“-Kommissar Felix Klare — entwickeln, während sie Rückschlag um Rückschlag kassieren. Wenn man so will, ist „Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“ ein bebildeter Albtraum. Ein umgedrehtes Lehrstück in Rechtsgeschichte, dass jeder angehende Jurastudent sehen sollte.
Geschenkt also, dass die Inszenierung nicht mithalten kann mit all den rasanten Polizeithrillern, die aus Amerika zu uns herüberwehen. Dass es mitunter angestaubt und arg kleinteilig zugeht. Hier dreht sich alles um Gerechtigkeit und Menschenwürde. Was passiert, wenn beides mit Füßen getreten wird, davon erzählt der Fall Harry Wörz.
„Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“, Mittwoch, 29. Januar, 20.15 Uhr, ARD. Im Anschluss talkt Anne Will über Justizirrtümer