Hamburg . Das Thalia (Gaußstraße) zeigt in „Kaspar Häuser Meer“ die Überforderung dreier Jungenamtsmitarbeiterinnen. Eine Kritik.

Bevor die Autorin Felicia Zeller Theaterstücke schrieb, hat sie im Altenheim gearbeitet. Schon deshalb weiß sie so genau zu schildern, wie der tägliche Kampf gegen Ohnmacht und Überforderung eskalieren kann. Bei ihr sprechen die Menschen in Wortkaskaden, oft nur halbe Sätze, weil sie gar nicht wissen, wo sie anfangen sollen bei der Vielzahl der Fälle, die sie betreuen. Und weil sie oft keinen Ausweg kennen. Sie verhaspeln und verlieren sich in Nebensächlichkeiten, reden sich in Rage oder entschuldigen sich pausenlos.

2008 schrieb Zeller das Stück „Kaspar Häuser Meer“, das seitdem von vielen Theatern gespielt wird und das im vergangenen Jahr auch in einer tollen Inszenierung in der „Kontraste“-Reihe der Komödie Winterhude zu sehen war. Erzählt wird darin von drei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, die verwahrloste, misshandelte Kinder betreuen sollen, die aber von der Flut der Akten, der Konfrontation mit den renitenten Eltern dieser Kinder oder der Aussichtslosigkeit, eine befriedigende Lösung für die brennenden Probleme zu zeigen, verzweifeln.

Jetzt hatte das Stück in der Regie von Friederike Harmstorf am Thalia Gaußstraße Premiere. Die drei wunderbar agierenden Schauspielerinnen Victoria Trauttmansdorff, Gabriela Maria Schmeide und Birte Schnöink konnten so ziemlich alles zeigen, was Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs ausmacht: lässige Ignoranz, überdrehte Fröhlichkeit, die Flucht in Alkohol, permanente Ausreden, Übereifer, Nachlässigkeit und so vieles, das für die Zuschauer ein Vergnügen war. Am Ende gab es langen Applaus.

Sozialamtsdeutsch, Sprachohnmacht und Mitleidsjargon

Im Hintergrund der Bühne befinden sich drei Glaswände, an den Seiten liegen Stapel mit Akten (Bühne: Stéphane Laimé). Darin führen Anika (Birte Schnöink), Barbara (Victoria Trauttmansdorff) und Silvia (Gabriela Maria Schmeide) einen Kleinkrieg mit den Zumutungen, die ihnen das Leben auferlegt hat. Anika ist eifrig, beklagt aber immer wieder, dass sie gleich ihre kleine Tochter aus dem Kindergarten „Glücksburg“ abholen müsse. Zu Hause verfasst sie dann ellenlange Gutachten über ihre Fälle. Streberin. Barbara hat fünf Kinder großgezogen, macht sich aber lustig über eine Familie mit sieben Kindern („Warum müssen die immer wieder schwanger werden“), denen sie die Kinder hat entziehen lassen. Anfangs lächelt sie süffisant alles weg, später redet sie sich in Rage, wird zur Furie. Silvia scheint ein Alkoholpro­blem zu haben. Unablässig spricht sie von Frau Schmidt, deren Wohnung sie aufbrechen ließ. Dahinter befand sich Müll, ein zum Skelett abgemagertes Kind. Im Proleten-Dialekt äfft sie Frau Schmidts Entschuldigungen nach – „Tut mir echt leid, ey, ich hab den Termin verpennt“ – und dokumentiert nimmermüden Einsatz und Ohnmacht.

Die drei Schauspielerinnen können pampig sein oder sich zum Song „Jump“ fröhlich durch den auf dem Boden verstreuten Aktenberg bewegen. Sie fragen: „Was bedeutet das für den Zustand unserer Gesellschaft, wenn sie ihre Kinder täglich in Institutionen schickt, die ‚Luftikus’ heißen?“ Ja, Zeller hat auch dem linksliberalen Bürgertum aufs Maul geschaut. Dem Sozialamtsdeutsch, der hyperaktiven Sprachohnmacht, dem Mitleidsjargon einer ausgebrannten Gesellschaft, die keinen familiären Zusammenhalt mehr kennt.

Das ist, trotz des eher traurigen Themas, sehr amüsant.

Kaspar Häuser Meer am Thalia/Gaußstraße, wieder am 26.4., 20 Uhr, 1. und 8.5. 19 Uhr, Karten: 22 Euro