Der US-Musiker Bruce Springsteen hat seine Autobiografie „Born to Run“ veröffentlicht. Sie ist aufrichtig, anrührend und amüsant.

„Bruce, wir brauchen dich jetzt!“ Dieser Satz, an den Bruce Springsteen sich in seiner Autobiografie „Born to Run“ erinnert, sagt eine Menge über die Bedeutung eines Mannes, der so viel mehr ist als nur ein Musiker. So viel mehr als nur ein millionenschwerer Superstar, der bei seinen Konzerten Fußballstadien füllt. „Bruce, wir brauchen dich jetzt!“, rief ihm ein Autofahrer aus dem offenen Fenster zu, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Und Bruce Springsteen wusste sofort, dass es tatsächlich auch seine Aufgabe war, das Leid zu lindern, eine gebrochene Nation aufzurichten, Gemeinschaft zu stiften. Sein 2002 ver- ­öffentlichtes Album „The Rising“ ist Ausdruck dieses Bewusstseins.

Wer jemals auf einem Springsteen-Konzert war, kennt die ungeheure Kraft dieser drei- bis vierstündigen Auftritte. Ihre kathartische Wirkung, die tagelang anhalten kann. Kennt die Lebensfreude, das Gefühl von Hoffnung auch in düsteren Zeiten, das Gefühl, Teil einer Familie zu sein, die aus Springsteen und seiner E Street Band besteht, aber auch aus den Tausenden um einen herum. Mit dem Menschen hinter all dem haben sich schon zahlreiche lesenswerte Bücher beschäftigt, hier aber spricht der „Boss“ erstmals selbst und gewährt tiefe Einblicke in Kindheit und Jugend, in seine persönlichen Gipfelstürme und Tiefpunkte.

Jahrzehntelang mied er Nähe und suchte Einsamkeit

Mehr als 300 Songs hat Bruce Spring­steen, heute 67, im Laufe seiner Karriere aufgenommen, viele weitere sind bisher unveröffentlicht geblieben. Er ist ein Storyteller, ein Mann der Sprache, und so liest sich dieses Buch auch. Wie ein großer Entwicklungsroman, aufrichtig, anrührend, amüsant – man fängt an zu lesen und mag das Buch gar nicht mehr weglegen.

Etwa wenn es um Springsteens schwierige Beziehung zu seinem Vater geht, einem verbitterten Mann, der jeden Abend mit einem Sixpack Bier in der dunklen Küche saß und vor sich hinstarrte. „Ich war (für ihn) ein Störenfried, ein Fremder, ein Rivale im gemeinsamen Zuhause und obendrein eine Enttäuschung“, schreibt Bruce Springsteen über einen besonders bitteren Moment zwischen Vater und Sohn. „Er brach mir das Herz. Ich war am Boden zerstört. Und er marschierte einfach angeekelt raus.“

Dass Springsteen über Jahrzehnte nicht zu langen, tiefgehenden Beziehungen fähig war, dass er Nähe mied und Einsamkeit suchte, macht er an diesen Erlebnissen aus Kindheit und Jugend fest. Erst mit seiner späteren Frau Patti Scialfa, die er bereits mehr als zehn Jahre kannte, bevor die beiden ein Paar wurden und drei Kinder bekamen, habe er eine wirkliche Stütze gefunden, einen Fels in der Brandung des Lebens.

Patti Scialfa – seit 1984 Mitglied der E Street Band – war es auch, die ihm über schwere depressive Phasen hinweghalf. 15 Jahre lang, so erzählt Springsteen, nehme er nun schon Antidepressiva. Er schreibt von „unerträglichen Angstzuständen“, von Tagen im Bett, an denen er nicht fähig war, aufzustehen, von endlos fließenden Tränen, von dem Gefühl, so nicht weiterleben zu können: „Zum ersten Mal verstand ich, was Leute auf den letzten Abgrund zutreibt.“ Im Song „The Promised Land“ hatte er schon 1978 gesungen „Some­times I feel so weak I just wanna ex­plode“ (manchmal fühle ich mich so schwach, dass ich am liebsten explodieren würde).

Es ist diese Offenheit, die „Born to Run“ so unvergleichlich macht. Hier ist ein Mann auf dem Zenit seines Ruhms, bejubelt und verehrt von Millionen, die nicht müde werden, ihm zu sagen, er habe den Soundtrack ihres Lebens geschrieben. Und womit antwortet er? Mit einem mehr als 650 Seiten langen Bekenntnis, auch nur ein Mensch zu sein, der die Last spürt, die ihm auferlegt wurde.

Natürlich gibt es viele eher anekdotenhaft-amüsante Momente in diesem Buch, etwa wenn Springsteen sich an zwei hübsche jüdische Nachbarstöchter erinnert, deren gebräunte Beine ihn in die Träume begleiteten. Dass seine eigene Familie katholisch war – kein Pro­blem: „Ich persönlich hätte ohne Umschweife unseren gut 2000 Jahre alten Erlöser für einen einzigen Kuss ge­opfert ...“

Springsteen wäscht keine schmutzige Wäsche

Und natürlich finden alle wichtigen biografischen Ereignisse Erwähnung: Der legendäre Satz des Musikkritikers Jon Landau (der später sein Manager wurde): „Ich habe die Zukunft des Rock ’n’ Roll gesehen. Ihr Name ist Bruce Springsteen.“ Der Durchbruch mit dem Album „Born to Run“. Das Missverständnis um den Song „Born in the USA“, der alles ist, aber gewiss keine Patriotismus-Hymne. Springsteens zunehmende Politisierung. Seine Solokarriere. Die Reunion der E Street Band vor 17 Jahren.

Über den 2011 gestorbenen E-Street-Band-Saxofonisten Clarence Clemons schreibt Springsteen: „... eine Naturgewalt in meinem Leben, und ihn verloren zu haben, ist, als gäbe es keinen Regen mehr.“ Und über Probleme mit dem eigenen pubertierenden Nachwuchs: „Welches Kind möchte schon miterleben, wie 50.000 Menschen seinen Eltern zujubeln? Kein einziges.“

Auch band-interne Konflikte werden nicht ausgeblendet, doch verzichtet Springsteen völlig darauf, schmutzige Wäsche zu waschen. Er habe nicht restlos alles erzählt, erklärt er auf einer der letzten Seiten, „aus Gründen der Diskretion und weil ich nicht die Gefühle anderer verletzen möchte“.

Das ist er eben auch, der „Boss“, dieser „Prisoner of Rock ’n’ Roll“: eine Führungskraft im besten Sinne. Ein Mann, der gebraucht wird. Immer noch. Und immer wieder.