Das Kunstspiel zum Mitmachen – jede Woche im Abendblatt. Heute: Edvard Munch „Winterwald“.
Mysteriös steht dieser Winterwald da: mit dem Schnee, der sich leuchtend abhebt und an einigen Stellen kleine geschwungene Bäche aus Tauwasser bildet. Die Bäume im Vordergrund haben eigenartige, ornamentale Fantasieformen. Das hier mit „Winterwald“ betitelte Bild aus dem Jahr 1901 ragt aus dem Werk des norwegischen Malers Edvard Munch (1863–1944) heraus: Um 1900 malte Munch eine Reihe von nächtlichen Winterlandschaften, die alle in der Nähe von Oslo, in Ljan, entstanden sind. Für eine kurze Zeit widmete er sich der Landschaft als betrachtete und intensiv erlebte Natur, ebenfalls zu sehen in den Arbeiten „Die Winternacht“ (1900/01), „Sternennacht“ (1901) und „Weiße Nacht“ (1901).
Man wird Zeuge einer menschenleeren, sich frei entfaltenden Natur
Der Künstler, der an die 1750 Bilder gemalt haben soll und sowohl den Expressionismus als auch den Symbolismus der Moderne maßgeblich prägte, verstand es wie kaum ein anderer, Gefühle und Lebenssituationen durch intensive, bedeutungsvolle Farben und ausdrucksstarke Verzerrung von Körper und Raum auszudrücken (man denke nur an das berühmte Gemälde „Der Schrei“). Doch tritt die sonst für Munch signifikante mit Emotionen verbundene Symbolik in diesen verschneiten Waldlandschaften zurück. Stattdessen wird man Zeuge einer menschenleeren, sich frei entfaltenden Natur.
Alle vier Werke zeigen eine einheitliche Bildkomposition: Immer ist ein verschneiter Kiefernwald in Szene gesetzt worden, mit einer Lichtung im Vordergrund. Die dicht nebeneinander gestellten Baumstämme geben dem Bild eine vertikale Ausrichtung, die wiederum durch die tropfenförmigen Blätter aufgebrochen wird. Im Text zur Ausstellung „Die Nacht“ im Haus der Kunst München von 1998 wird das Bild noch mit „Tannen im Wald“ betitelt und auf das Jahr 1903 datiert. In der Sammlung Online der Hamburger Kunsthalle wird das gut 60 mal 90 Zentimeter große Werk unter „Winterwald“ geführt und auf die Entstehungszeit 1900/01 datiert. Es befindet sich dort in der Sammlung Klassische Moderne.
Interessant ist die dekorative, an den Jugendstil angelehnte Linienführung, der sich Edvard Munch hier bedient, indem er die Bäume fast rhythmisch anordnet, ebenso die Kegel der Tannen im Hintergrund. Sie ragen in den nächtlich blauen Himmel mit funkelnden Sternen. Zwar ist der Mond nicht zu sehen, doch scheint sein Licht die Szenerie in diese spezielle Mystik zu tauchen, lässt er den Schnee so eigenartig aufleuchten.
Viele Maler des Nordens haben die skandinavische Landschaft zu ihrem zentralen Thema gemacht. Die Ausstellung „Im Licht des Nordens“, die 2019 die Sammlung Ordrupgaard in der Kunsthalle präsentierte, stellte die dänischen Maler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in den Vordergrund. Auch hier lag ein Schwerpunkt auf den Vertretern der nationalromantischen Richtung, die die Schönheit des eigenen Landes ausloteten.
Edvard Munch soll der Landschaft seines Heimatlandes ebenfalls sehr verbunden gewesen sein. An ihrer Gestaltung konnte man häufig seine seelische Gestimmtheit ablesen; bis zu seinen letzten Selbstporträts integrierte der Maler stets auch seine Umgebung, ob in einem Garten, zu Hause, als er an der Spanischen Grippe erkrankte, im Restaurant oder einfach mit Zigarette – in Nebel gehüllt –, weshalb Kunstkritiker auch von „Seelenlandschaften“ sprechen. In „Winterwald“ existiert die Natur dagegen nur für sich. Trotz der dominierenden dunklen Farben wirkt das Bild nicht schwermütig, besticht aber doch durch eine besondere Poesie.
„Winterwald“ kam durch einen Rechtsanwalt in die Kunsthalle
In die Sammlung der Kunsthalle kam das Gemälde übrigens durch den Hamburger Rechtsanwalt und Sammler von Druckgrafik Gustav Schiefler (1857–1935), der 1902 tief beeindruckt war von den Radierungen des Norwegers, „die an die tiefsten Empfindungen des Herzens greifen; mich aber bewegen sie besonders durch ihre Komposition und ihren Strich“ (Edition Edvard Munch. „… aus dem modernen Seelenleben“, 2006).
Edvard Munch war Schieflers erste eigene Entdeckung, die er unabhängig von seinem Berater Alfred Lichtwark machte. Er sah darin in dessen Arbeiten eine neue Entwicklungsphase der Kunst: „Sein Griffel versteht Dinge zu sagen, welche Geheimnisse der Seele künden und bisher unausdrückbar schienen.“ Schon bald interessierte sich der Jurist auch für das malerische Werk des Künstlers und kaufte zusammen mit seiner Frau Ottilie aus der Cassirerschen Ausstellung zwei Werke: „Mädchenakt auf rotem Tuch“ (1902/03) und „Tannen im Winter“ (1903). Die Eheleute waren die ersten Besitzer von Munch-Bildern in Hamburg. Ottilie Schiefler vermachte „Winterwald“ dem Museum in Gedenken an ihre Eltern.