Hamburg. Die Uraufführung von Thomas Brussigs Roman im Altonaer Theater zündet erst im zweiten Teil – als Medien-Satire.

Fast dreieinhalb Stunden pro Tag verbringen Kinder und Jugendliche heutzutage durchschnittlich im Netz. Im Internet findet sich manch Nützliches, aber auch viel Unnützes, auch Gefährliches, wenn es etwa um das Drehen von ungewöhnlichen Videos für die sogenannten sozialen Netzwerke geht. Trauriges Beispiel: die jüngst an einem Bahndamm verunglückten 18-jährigen Zwillingsschwestern aus Hamburg-Allermöhe. Klickzahlen sind für viele junge Menschen wie für Erwachsene das A und O, die Währung, die zählt. Auch für Fibi und Aram.

Die beiden fiktiven Teenager sind für ihre Mutprobe einer Anleitung aus dem Internet gefolgt, nach der ein Fünf-Beeren-Mix, eingerollt in Bärlauchblätter, sie zu Waschbären werden lässt. Als beiden aus einer Waschanlage im mecklenburgischen Örtchen Seenot dann als solche herauskommen, ist die Verwirrung groß. So erzählt es Thomas Brussig in seinem 2020 veröffentlichten Roman „Die Verwandelten“. Und nach dem spielt er nun erstmals im Altonaer Theater.

„Die Verwandelten“ in Altona: Stück zündet bis zur Pause kaum

Autor Brussig, in den 1990ern mit „Helden wie wir“ und „Sonnenallee“ groß herausgekommen, hatte sich für die „Die Verwandelten“ bei einer ländlichen abendlichen Autofahrt mit seiner Tochter inspirieren lassen, als ihnen auf einer Straße zwei Waschbären begegnet waren. Mit seinem Roman und der aberwitzigen Ausgangslage hat er Fährten für eine Provinzposse, eine Generationengeschichte bis hin zur Mediensatire gelegt. Und klar, Kafkas 110 Jahre alte Erzählung „Die Verwandlung“ lässt grüßen. Nur dass das „Ungeziefer“ (in Person Gregor Samsas) hier mit zwei Teenagern jünger, zeitgemäßer und sympathischer daherkommt.

Für die von ihm erstellte Bühnenfassung hat Altonas Intendant Axel Schneider Altmeister Ralph Bridle mit der Regie betraut. Der englische Fernseh- und Theaterregisseur, in Hamburg bisher oft an den Kammerspielen tätig, tut sich bei seinem Altonaer Debüt lange recht schwer, das Absurde aus Brussigs 328-Seiten-Roman herauszuarbeiten. Dabei gehen die destillierten Szenen dank der mobilen Kulissen (von Ricard Lutz) meist schnell ineinander über. Bis zur Pause zündet das beim Uraufführungs-Publikum im nicht ausverkauften Theater dennoch kaum.

Waschbärin wird selbst zum Star und geht mit Ed Sheeran Tournee

Die Protagonisten sind mit den Emily Seubert als Fibi und Markus Feustel als Aram mit zwei Nachwuchskräften besetzt, die sich im Laufe des Abends freispielen und dabei meist zwei Waschbären aus Stoff vor sich halten. Während Fibi auch nach der Verwandlung des Sprechens mächtig ist und mit ihren Eltern kommuniziert, zieht sich Aram zurück und spricht nur während der nächtlichen Ausflüge mit Fibi. Arams Traum von einer Karriere als Profikicker und einem Probetraining beim – Konzession an das Altonaer Publikum – Hamburger SV ist da längst ausgeträumt. Schnell ist Aram gewiss, dass er sich niemals in einen Menschen zurückverwandeln wird. Das hat er „rabiat nicht gewollt“, um mal in seiner Jugendsprache zu bleiben. Das Tragische seines Charakters zeigt Feustel am Ende in Monologen am eindrücklichsten. Nebenbei gibt er mit Gitarre Ed Sheeran.

Für den hat Fibi schon als Mädchen geschwärmt, als sprechende Waschbärin aber ist sie für den Brit-Pop-Star weitaus publicityträchtiger als ein normaler weiblicher Fan. Fibi wird selbst zum Star, geht mit ihm auf Tournee und zieht nach London. „Unsere Familie ist mit einem Mal an die Frontlinie von Natur und Zivilisation geraten“, hat Fibis Mutter Wiebke (Sarah Diener), von Beruf Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin, konstatiert. „Ich brauche die Zivilisation nicht“, so die Tochter.

Im zweiten Teil entwickelt sich das Stück zur Medien-Satire

Ihr Vater Hilmar Hüveland, Bürgermeister der Gemeinde Bräsenfelde, hätte sie gern zur Apfelkönigin küren lassen. Um den Urheber der folgenschweren Internet-Anleitung zu ermitteln. konsultiert er zwei Anwälte, dazu noch seinen Schwager, einen Arzt am Uni-Klinikum Greifswald, der untersuchen soll, ob sich am Waschbärenmädchen noch was Menschliches finden lässt.

Gerd Lukas Storzer macht als besorgter Vater und Bürgermeister allerlei komödiantische Verrenkungen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ebenso wie ihm dienen die beiden verwandelten Individuen Fibi und Aram den anderen Randfiguren nur als Mittel zum Zweck, als Diener ihres Opportunismus. Sei es der pensionierte Jurist Dr. Ahlert, den Frank Roder souverän als gewieft-überheblichen Online-Legastheniker gibt, oder Arams Vater Heiner und der Arzt Dr. Putensen: Beide verkörpert Ole Schloßhauer schlicht und laut oder als eitlen Pseudo-Wissenschaftler.

Den größten Wandel (und die meisten Kostümwechsel) bringt Sarah Kattih hinter sich. Als Arams Mutter zeigt sie Empathie. Als Rechtsanwältin, sensationsbegierige Lokal-Reporterin sowie Intendantin Heidi Walissa, die mit der „Walissa-Methode“ Fernsehsendungen „auf technisch höherem Niveau bei gleichzeitiger Absenkung des inhaltlichen Niveaus“ zu produzieren weiß, personifiziert die Schauspielerin die Medien-Satire. Zu der entwickelt sich die Geschichte im turbulenten zweiten Teil dann doch noch.

Theater Hamburg: Lang anhaltender Beifall für "Die Verwandelten"

Die Hüvelands als eine normale Fernsehfamilie aus der Provinz, jedoch mit einem sprechenden Waschbären als Mitglied – derlei Reality-TV ist dem (Privat-)Sender einige Millionen wert. RTL 2 und „Dschungelcamp“ lassen grüßen. Am Ende lang anhaltender Beifall für das komische Spiel um die „Waschbär-Mania“, die einiges von Brussigs Sprachwitz auf die Bühne rettet und doch für eine formidable Parabel nicht taugt. Wohl auch, weil die Realität immer absurder wird und die Fiktion auf traurige Art überholt.

„Die Verwandelten“ wieder Do 26.1., 19.30, bis 26.2., Altonaer Theater (S Altona), Museumstr. 17, Karten zu 20,- bis 43,- : T. 040/39 90 58 70; www.altonaer-theater.de