Hamburg. Das Schleswig-Holstein Musik Festival begann in Lübeck mit Brahms und Hindemith. Levits Auseinandersetzung mit seinem Part blieb glatt.
Mit einem ordentlichen Erdbeben beginnen und sich von dort aus steigern, dieser Faustregel-Klassiker aus der Film-Branche wird auch bei Klassik-Festivals gern genommen, wenn es um den ersten Aufschlag am ersten Abend geht. Für das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF), traditionell mit einem doppelten Auftritt des NDR Elbphilharmonie Orchesters beginnend, hieß das dieses Jahr an diesem Wochenende: Brahms, der SHMF-Komponist des Sommers 2022 vorneweg, dazu Igor Levit als sicherer Publikumsmagnet und Solist.
Und, Überraschung: Paul Hindemiths sinfonisches, dreiteiliges Irgendwie „Die Harmonie der Welt“ nach der Konzertpause. Die eigentliche Überraschung aber: Der aufsehenerregendere, spannendere und intensiver nachklingende Teil des ersten Abends in der Lübecker Musik- und Kongresshalle war nicht etwa das klar populärere 2. Klavierkonzert, sondern die Entdeckung einer faszinierend schillernden Repertoire-Rarität der Konzertprogramm-Rarität Hindemith. Verkehrte Vorzeichen.
SHMF-Auftakt: Brahms sorgt für Irritation
Für die argumentative Brahms-Eingemeindung ins nördlichste Bundesland hatte sich der SHMF-Intendant Christian Kuhnt vorab noch schnell einen zwar griffigen, aber historisch leicht wackligen und kulinarisch herausfordernden Vergleich einfallen lassen: Brahms sei, in dieser Reihenfolge, „Holsteiner, Hamburger und Wiener in einer Person“ – „ein Fischbrötchen mit Schlagobers“.
Na Mahlzeit. Außer einem musikpädagogisch wahrscheinlich wertvollen Stückchen-Paket namens „Plöner Musiktag“ gibt es keinerlei noch so hauchdünne Verbindungslinien von Hindemiths ins Land zwischen den Meeren. Dieses Konzert leistete also nicht unmutig Grundlegendes, um die Geschmacksnerven der SHMF-Kundschaft sinnstiftend zu irritieren.
Schleswig-Holstein Musik Festival: Auftakt mit Wumms
Während der junge Stockhausen Anfang der 1950er bereits mit elektronischer Musik in ganz andere Sphären abhob, hatte Hindemith noch eine regelkonformere Oper über himmlische Gesetzmäßigkeiten und den Astronom Johannes Kepler in Arbeit. Die drei Sätze der Best-of-Kepler-Ideenverwertung präsentierte das NDR-Orchester und sein Chefdirigent mit eindringlicher Begeisterung fürs unkonventionell andere. Als Plädoyer, sich diesem kunstvoll ineinander verschränkten Tonsprachen-Vokabular vorurteilslos zu widmen. Der Ausdrucksvielfalt zu vertrauen, mit der Hindemith eine Handvoll Motive durch das Orchester ihre Bahnen ziehen ließ.
Heißblütig und impulsiv waren „Musica Instrumentalis“, „Musica Humana“ und „Musica Mundana“ keineswegs, aber eben auch nicht ansatzweise so durchkalkuliert und vorgestrig, wie es die Traktat-Satz-Bezeichnungen und Hindemiths Ruf als spröder Schwieriger befürchten lassen könnten. Die Sterne funkelten reizend, eigenwillige Instrumentationsideen, toll ausgeführt, sorgten ständig für Überraschungs-Flackern. Theoretisch mächtig überladen, live eine Wucht. Diese halbe Stunde war durch und durch festivalauftaktwürdig.
Brahms’ B-Dur-Klavierkonzert dagegen war auf halbtolle Weise harmlos und auf hohem Niveau verbindlich. Der extrovertierte Gefühls-Virtuose Levit und der sich vor allem nach innen öffnende Brahms, das liest sich wie eine passende, zur Reibung drängende Kombination. Doch Levits Auseinandersetzung mit seinem Part blieb oberflächlich, zu glatt. Die Noten waren alle dort, wo sie Brahms platziert hatte, die enormen pianistischen Herausforderungen, die enormer sind, als sie klingen sollen, flossen angemessen balanciert in den Dialog von Solist und Orchester.
Doch Levit positionierte sich zu wenig zu Brahms’ Grübeleien und Eigenwilligkeiten. Das war noch keine reife, am Stück gereifte, gewachsene Leistung, sondern ein sehr respektgetriebener, noch unvollendeter Annäherungsbesuch in Brahms’ komplexer Welt. Das Eröffnungskonzert am wird von NDR Kultur und 3sat ab 20.15 Uhr live übertragen und ist auf shmf.de als Livestream abrufbar.
Schwerpunkt Brahms
Nach etlichen Runden durch das Komponisten-Lexikon ist in diesem Sommer der in Hamburg geborene Johannes Brahms der SHMF-Schwerpunkt. In mehr als 85 der 204 Konzerte steht seine Musik auf dem Programm. Die kleine Konzertreihe „Inside Brahms“ gastiert vom 18. bis 20. Juli mit Kammerkonzerten im Gängeviertel, in dem Brahms 1833 geboren wurde, und der angrenzenden Nachbarschaft.
Die Ausstellung „Der junge Brahms – Zwischen Natur und Poesie“ im Brahms-Institut der Lübecker Musikhochschule widmet sich den weniger bekannten Anfangsjahren und -arbeiten seiner Karriere (Jerusalemsberg 4, bis 17.12., Eintritt frei, Katalog 19,90 Euro). Im achtteiligen Podcast „Sie lieben Brahms“ kommen auch der Dirigent Thomas Hengelbrock, die Klarinettistin Sabine Meyer und die Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey zu Wort (wöchentlich montags abrufbar über www.shmf.de).