Hamburg. Deutschlands international erfolgreichster Musikexport veröffentlicht sein achtes Werk „Zeit“. Ein Pro & Contra.
„Zeit“ : Schöner, größer, härter, straffer, glatter, stärker
Kürzlich überfiel mich Thorsten, ein guter Freund, der für Bier sogar mit zu Andrea-Berg-Konzerten (im Slayer-Shirt) kommt, aus dem Nichts mit einer WhatsApp-Nachricht: Nach langer Zeit hätte er mal wieder das erste Rammstein-Album „Herzeleid“ (1995) gehört, und das wäre ja totaler Schrott. Ich verstand nicht so recht, was er meinte.
Denn „Herzeleid“ steckt voller Hits, die die Marke Rammstein bis heute prägen: „Wollt ihr das Bett in Flammen sehen“, „Asche zu Asche“, „Rammstein“, „Du riechst so gut“ oder das in ruhigeren Gewässern rudernde „Seemann“. Stures Riffgeballer und darüber die gegrollten Texte von Till „Walther von der Vögelweide“ Lindemann über Qual, Gewalt, Sex, Angst und düstere Romantik. Harter Rock, barocker Quatsch.
Albumkritik: Berliner haben ihren Horizont erweitert
Es ist jetzt schwer zu sagen, was sich seit „Herzeleid“ großartig geändert haben sollte. Eigentlich nichts. Nur die Hallen wurden größer, vom winzigen Hamburger Logo 1994 ging es bis in Deutschlands Fußballstadien und den ausverkauften Madison Square Garden in New York. Rammstein sind so etwas wie die deutschen AC/DC, der immer gleiche Stiefel, der immer gleiche Marschtritt und irgendwann hat man den Status erreicht, in dem man sich jeden Stuss erlauben kann, ohne dass es jemanden kratzt. Drehte beim Leni-Riefenstahl-Video zu „Stripped“ 1998 noch alles frei, kratzte das nicht minder provokante „Deutschland“ 2019 nur die Feuilletonisten. Die stehen immer Stift bei Fuß, um jede neue Textzeile zu wenden wie Fisch in der Pfanne, immer auf der Suche nach etwas Faulem.
Jetzt ist das neue Rammstein-Album „Zeit“ da, und im direkten Vergleich mit „Herzeleid“ fällt auf, dass der eingangs erwähnte Freund vielleicht recht hat. Wie schrabbelig und unbeholfen die früher klangen. Natürlich sind auf „Zeit“ schwere Brocken wie „Giftig“ und wuchtige Midtempo-Stampeden wie „Armee der Tristen“ immer noch die absolute (nicht mehr so) „Neue Deutsche Härte“, wie man den Stil der Band und Zeitgenossen wie Oomph!, Fleischmann, Schweisser oder Eisenvater Mitte der 90er-Jahre nannte. Und doch sind die Berliner mittlerweile weit über ihren eindimensionalen Horizont alter Tage hinausgefahren.
„Zeit“ übertrifft die sieben Vorgänger
Nicht jedem Fan der Ur-Knüppelsuppe mag das gefallen, aber „Zeit“ ist melodiöser und ausgefeilter arrangiert als die sieben Vorgänger. Wie ein schwarzer Schleier legt sich eine Atmosphäre aus Schwermut, Reue und Schmerz über die elf Lieder, besonders in „Zeit“, „Schwarz“ und „Adieu“. Interessant ist auch, dass Christian „Flake“ Lorenz an Keyboards, Synthesizern und Klavier mehr denn je aus Trommelfeuer und Gitarren-Kettenrasseln heraussticht.
Herrschte früher der Eindruck, dass der arme Kerl als einziger ernst zu nehmender Musiker in der Hölle gelandet ist und entsprechend live auf der Bühne als Mischung aus Maskottchen und Watschenmann geröstet, gekocht, geschlagen und man-will-nicht-wissen-womit verschmiert wurde, legt er jetzt in vielen Songs deren Seele bloß. Es sei noch mal an seine autobiografischen Bücher „Der Tastenficker“ und „Heute hat die Welt Geburtstag“ erinnert.
Rammstein ist "richtig gut" geworden
„Zeit“ ist, wie es im Song „Zick Zack“ heißt, „schöner, größer, härter, straffer, glatter, stärker“ als 1995, und dass der lyrische Kosmos der Band in einer Zeit von Krieg und Seuchen weiterhin überzeichneten, aber dokumentarischen Charakter hat, ist so traurig wie richtig. Häusliche Gewalt („Meine Tränen“), die Angst vor dem schwarzen Mann („Angst“), Hedonismus und Selbstoptimierung („Zick Zack“): In einer kranken Gesellschaft findet eine kranke Band wie Rammstein immer neue Inspiration und Bestätigung.
Nehmen wir „Dicke Titten“: Das im Stil von „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ von Blasmusik begleitete Stück altmännlicher Masturbations-Sexismus wäre ohne Gitarren ganz normaler Ballermann- und Aprés-Ski-Soundtrack. Till „Eulenspiegel“ Lindemann weiß das, und wahrscheinlich soll die Nummer auch nicht mal provozieren. Wen kann man denn überhaupt noch provozieren oder parodieren, wenn man selber bereits von Heino (!) gecovert wurde? Die Welt da draußen ist schlecht, und es kann nur besser werden. Rammstein allerdings ist richtig gut geworden. Es brauchte nur „Zeit“.
Tino Lange
Stumpf bleibt stumpf: Zeit, Adieu zu sagen
Rammstein hören. Das ist, als bette man seinen Kopf auf porösen Asphalt. Neben einen Presslufthammer. Es riecht ein bisschen. Na, eigentlich mehr als ein bisschen. Hier zündelt doch jemand. Hey, und ist das nicht Mickie Krause, der dort durchs Bild huschte? Muss einfach so sein, denn es ballermannte uns soeben doch tatsächlich ein Partnergesuch dummprollig in die ohnehin schon weichgekochte Birne: „Sie muss nicht schön sein/Sie muss nicht klug sein/Sie muss nicht reich sein/Kein Modell mit langen Schlitten/Doch dicken Titten“.
Jaja, schon klar: Der eigentliche Clou, der Grund, warum die Rammstein-Show seit fast drei Jahrzehnten so gnadenlos funktioniert, ist: Die nehmen sich selbst gar nicht ernst. Die grollen und brettern und grimassieren, aber innerlich lachen sie sich kaputt. Eigentlich nicht der schlechteste germanische Kulturexport, oder? Wo doch Teutonentenor Till Lindemann auch so schön auf Bestellung das R rollen kann, während die Riffs zackig durch die Gehörgänge marschieren. Rammstein, das ist wagnerianischer Wahn, Stechschritt, Teutoburger Wald. Romantik mit Till Lindemann („Du hast ne Muschi/Ich hab nen Schwanz/Wo ist das Problem?/Lass es uns schnell machen“), dem Metal-Poeten am Deutschtum-Megafon mit dem Faible für Sex und Gewalt: eine Grenzerfahrung, schwülstig, verboten, maskulin.
Rammstein kann nicht gelobt werden
Aber oje, am Ende, nach all den Provokationen, Skandalen, an der angeblichen Jugendgefährdung vorbeischrammenden Texten, nach der Feststellung: die beißen nicht, die bellen nur, das aber halt sehr laut, nach weltanschaulicher Klärung – keine Nazis, nur Liebhaber der Naziästhetik! – muss man halt doch eins sagen.
Dass man Rammstein für die strengen Spielereien mit den Zeichen und Klischees, ihre pompös ausgestellte letztendlich auch schon wieder sehr deutsche Gespaltenheit in Sachen Patriotismus („Deutschland – meine Liebe/ Kann ich dir nicht geben“) zwar wirklich gerne loben möchte, dies aber nicht kann. Das plakative, einfache, nur einen einzigen Boden unter der Message einziehende Rammstein-Programm ist so unterkomplex wie ein Glas stilles Wasser. Hier perlt nix, und schon gar nicht die textanalytische Freude am Interpretieren. Stumpf bleibt halt stumpf.
Rammstein hat noch gute Momente
Man sagt ja immer, wie schwierig, wie anspruchsvoll und künstlerisch wertvoll es ist, einfache Kunst zu machen, beziehungsweise das Komplizierte (und, Boy, ist Pop kompliziert, wenn man maximale Publicity haben will, da langen halt pyromanische Interessen allein nicht) einfach aussehen zu lassen. Rammstein ist eine Band, die immer noch gute Momente hat – der Schönheitsfetisch-Abgesang „Zick Zack“ ist insgesamt ganz hübsch geraten.
Aber es hat sich doch, wo jetzt das achte Rammstein-Album „Zeit“ erscheint, der Gaul endgültig totgeritten. Martialische Hymnen für Schattengewächse („Reih dich ein/Und komm mit/Im Gleichschritt“ heißt es im Eröffnungslied „Armee der Tristen“) sind nicht das Mittel der Wahl, für die ohnehin schwierige Gegenwart. Oder soll das jetzt alles tatsächlich Spaß machen, siehe auch den Sexfrust-Song und sein Oberweiten-Phantasma?
"Zeit" könnte Abschiedswerk sein
Vor ein paar Jahren wurde Lindemann, dem man sicher eine einmalige Bühnenpräsenz und gelingenden Inszenierungswillen attestieren darf, als Dichtersau durchs Dorf getrieben. Das passte aber immer nur bedingt. Als Fürst der Finsternis, der die geheimen Perversionen und Fetische der triebgesteuerten Kreatur kanalisiert, hat er nie die lyrische Finesse besessen, um Verse zu produzieren, die auch jenseits seiner krachenden Deklamation nachhallten. Schon klar, das war eh nie der Plan: den Raum in Schwingung zu versetzen zum Beispiel mit Mehrdeutigkeiten.
So darf man jetzt wohl finden, dass dieses Album, dessen letztes Stück „Adieu“ heißt, ein willkommenes Abschiedswerk wäre. Rammsteins Industrial-Sound und die glatt gestriegelten Monotonakkorde schläfern auf die Dauer genau so ein wie Lindemanns greller Seelenexorzismus.
Albumkritik: „Neue Deutsche Härte“ sieht alt aus
Anders gesagt: Die „Neue Deutsche Härte“ sieht mittlerweile ganz schön alt aus. In „Zeit“ heißt es: „Bitte, bleib stehen, bleib stehen/Zeit/Das soll immer so weitergehen“.
Lieber nicht.
Thomas Andre