Hamburg. Guillermo del Toros düsteres Meisterwerk seziert gnadenlos den Amerikanischen Traum – mit Stars bis in den Nebenrollen.
Es ist der ur-amerikanische Traum, der immer aufs Neue beschworen wird: Von ganz unten nach ganz oben, aus welchen Verhältnissen auch immer, am Ende zählt nur der Erfolg. Dass dieses Streben nach Glück, das sogar in der Unabhängigkeitserklärung der USA verankert ist, auch seine Kehr- und Schattenseiten hat, ist ebenfalls schon oft erzählt worden. In Guillermo del Toros Film „Nightmare Alley“ wird das nicht nur einmal mehr als amerikanischer Albtraum gezeigt, sondern auch als große Illusion, ja als Zirkusnummer entlarvt. Der Gründungsmythos wird hier nicht nur entzaubert, sondern regelrecht seziert.
Gleich anfangs brennt da ein Mann sein Haus nieder. Stanton Carlisle (Bradley Cooper) flieht sein armes Leben auf dem Land, ein Getriebener, der als Hilfsarbeiter bei einem Carnival, einem Wanderzirkus strandet. Fabelwesen, Monster, Freaks und Außenseiter bevölkern von jeher das filmische Universum des mexikanischen Filmemachers del Toro. Der heruntergekommene Zirkus ist da eine ideale Kulisse für seine Fantasiewelt. Hier gibt es Kleinwüchsige, bärenstarke Riesen, Gummimenschen und ein Zwitterwesen, halb Mensch, halb Bestie. Außerdem eine Art Geisterbahn und ein medizinisches Gruselkabinett voller Föten und Absurditäten. Lauter schaurige Attraktionen.
„Nightmare Alley“: Del Toro baut eine grandiose Filmwelt auf
Hier fragt keiner, wer man ist und was man getan hat. Hier kann Carlisle ganz von vorn anfangen. Er knüpft zarte Bande zu dem Zirkusmädchen Molly (Rooney Mara), das „unter Strom“ steht und für das er, eine der makabersten Liebeserklärungen des jüngeren Kinos, einen (falschen) elektrischen Stuhl entwirft. Vor allem aber geht er in die Lehre bei einer abgetakelten Hellseherin (Toni Collette), die mit billigen Tricks arbeitet, und ihrem Gatten (David Strathairn), der wirklich eine Gabe hat, den diese aber in den Suff trieb. Bei ihm lernt Carlisle die Kunst, Menschen in kürzester Zeit aufzugrund von Äußerlichkeiten und Gebaren zu durchschauen.
Eine grandiose Filmwelt baut del Toro auf, ein atmosphärisch dichtes und stimmiges Gebilde der späten 30er-Jahre. Wenn auch als düsterer Mikrokosmos: ein heruntergekommener Zirkus, der von einem Örtchen zum nächsten tingelt und seine Zelte in Schlamm und Morast aufschlägt. Die wunderlichen Schausteller und zur Schau Gestellten aber erweisen sich als eine große Familie, die stets zusammenhält.
Narben auf der Seele oder auf dem Leib finden sich überall
Del Toro ist hier ganz bei sich, der Film trägt in jeder Szene seine Handschrift. Aber dann, ziemlich genau zur Hälfte des Films, ein radikaler Bruch und Zeitsprung. Carlisle will ganz groß rauskommen, will weg aus der armseligen Provinz, rein ins mondäne New York. Wo er zwei Jahre später, mit Molly als Assistentin, in den mondänen Nachtclubs und Varietés von New York auftritt: als „The Great Stanton“. Und die Gedanken der Reichen und Einflussreichen liest. Der Hochstapler als Höchststapler.
Eines Abends aber versucht eine fremde Frau vor dem Publikum seine Tricks zu entschleiern. Stanton kann die Situation retten, indem er auch ihre Schwachstellen durchschaut. Doch die kühle Blonde fasziniert ihn: Lilith Ritter (Cate Blanchett) steht für die Moderne, betreibt Psychoanalyse in einer edlen Praxis, wo sie die Reichsten der Reichen auf die Couch legt. Und deren geheimste Abgründe erfährt. Der Gedankenleser und die Seelenklempnerin, sie umgarnen, umgurren sich wie in einer Liebesbalz. Bis sie sich zusammentun. Die Psychoanalytikern füttert den Mentalisten mit Interna über ihre begüterten Klienten, und er führt sich bei ihnen als Medium ein, gibt vor, mit ihren Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können. Ein Geschäft mit Zukunft: Denn wirklich jeder in diesem Film hat seine Wunden und Narben, ob auf der Seele oder auf dem Leib. Aber es ist auch ein trügerisches Geschäft, weil sich die beiden so grundverschiedenen Klarseher genau durchschauen – und nicht über den Weg trauen.
Bis in die Nebenrollen mit großen Stars besetzt
William Lindsay Greshams gleichnamiger düsterer Nachkriegsroman ist schon einmal verfilmt worden, 1947, nur ein Jahr nach der Publikation, als „Der Scharlatan“, damals ein Vehikel für Tyrone Power, den in die Jahre gekommenen Action-Star der 30er, der sich damit eine große Charakterrolle sicherte. Auch wenn dem Studio 20th Century Fox, das den Film produzierte, der Stoff dann doch zu düster war und ihm ein schales Happy End verpasste.
Guillermo del Toro kannte das Buch lange vor dem Film, es wurde ihm von Ron Perlman nahegelegt, ein Star in vielen seiner Filme, etwa in „Pan’s Labyrinth“, „Hell Boy“ und nun auch in „Nightmare Alley“. Die Fox, bei dem die Rechte lagen, wurde mittlerweile vom Disney-Konzern geschluckt, dem er Stoff wohl zu düster war. Aber del Toro hat mit seinem letzten Werk „Shape of Water“ 2018 vier Oscars gewonnen, darunter für die Beste Regie und den Besten Film.
Und so konnte er sich an dieses Großprojekt wagen, für das aufwendige Kulissen gebaut und bis in Nebenrollen große Stars verpflichtet wurden. Ein Wanderzirkus à la del Toro, wenn man so will, voller Kuriositäten und Abgründe. Das ganz im Stil der 40er-Jahre erzählt wird, als finsterer Noir Film, zwar nicht in Schwarz-Weiß, aber doch in den fahlsten und düstersten Farben, die die Palette so hergibt. Und so wie in „Shape of Water“, einer Neuversion von „Der Schrecken des Amazonas“, nicht die halb menschliche, halb reptile Kreatur das Monster war, sondern die Menschen drumherum, so sind auch in „Nightmare Alley“ nicht die zur Schau gestellten Zirkuswesen die wahren Freaks.
Auch interessant
„Nightmare Alley“ ist ein Oscar-Kandidat: virtuos inszeniert und stark gespielt
So sehr der Film klassisches Toro-Terrain ist, hält der Mexikaner der US-Gesellschaft hier, wenn auch im historischen Gewand, einen entlarvenden, desillusionierenden Spiegel vor. Hier wimmelt es nur so von arrivierten Reichen, die alle Leichen im Keller haben, und Emporkömmlingen, die vor nichts zurückschrecken. Wobei der Fall des von Bradley Cooper hochambivalent gespielten Hauptfigur tiefer nicht sein könnte. Am Ende wird er alles verlieren und wieder beim Zirkus landen, mit der entwürdigendsten Nummer, die man sich vorstellen kann.
„Nightmare Alley“ ist bildstark, virtuos inszeniert und grandios gespielt. Wie einst „Shape of Water“ wird auch dieser del Toro als heißer Oscar-Kandidat gehandelt.
„Nightmare Alley“ 151 Minuten, ab 16 Jahren, läuft im Abaton, Cinemaxx Dammtor, Elbe, Studio, Zeise