Hamburg. Als Auftakt der Jubiläumskonzerte gab Dirigent Kent Nagano mit den Philharmonikern Werke von Widmann und Beethoven.

Es hätte so schön, so übergroß und überwältigend sein sollen: Eine satt zweihundertköpfige Chor-Breitwand hinter der Bühne; davor ein dreistellig besetztes Orchester; Solisten; die große Klais-Orgel bis zum Anschlag aufgedreht. Hätte, hätte, Infektionskette. Denn kurz vor knapp hatten Generalmusikdirektor Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester dieses Remake ihres Elbphilharmonie-Eröffnungsbeitrags – Jörg Widmanns in jeder Hinsicht episches Es-werde-Klang-Oratorium „ARCHE“ – wegen der steil gehenden Corona-Zahlen absagen müssen.

Für den Start der Jubiläumswoche zum fünften Geburtstag des Spielbetriebs-Starts mit zwei Konzertterminen musste es nun, sehr notgedrungen und zerknirscht, einige Nummern kleiner sein als diese spektakulär überbordende Auftragsarbeit. Widmann allerdings sollte auf dem Programm bleiben, leibhaftiger sogar als ursprünglich gedacht. Für das nächste Live-Ablegen der „ARCHE“ in jenem so speziellen Raum, für den sie konstruiert wurde, wird nun nach einem neuen Datum fürs Wiederhören gesucht.

Elbphilharmonie: Widmanns Musik erweiterte Erwartungshorizont

Glück in diesem Unglück: Widmanns üppiger, bunt schillernder Werkkatalog kann in so ziemlich jeder Formatgröße Alternativen bieten. Einzig den Eindruck, dass hier arg schnell etwas ähnlich Außergewöhnliches eben nicht mal eben aus dem Hut zu zaubern war, bekam man damit nicht in den Griff.

Fürs feierliche Zum-warm-Werden, praktisch kurz und schnell auf die Pulte gelegt, bot sich eine Fanfare für zehn Blechbläser an, die mit ihrem zeitgenössisch komplexen Intervallreibungen sehr entfernt an die frühbarocke Mutter all dieser Fanfaren, die einleitende Toccata aus Monteverdis „L’Orfeo“, erinnerte. Mit solcher Traditionspflege kann man nichts falsch machen, das geht immer und macht umgehend den gewünschten prächtigen Eindruck.

Avantgarde-Einlagen bei diesem populärem Anlass

Interessanter, weil widerborstiger wurde es danach mit einem Solo-Auftritt Widmanns, der als Klarinettist ebenso virtuos bestechend sein kann wie als Komponist. An drei Positionen an der Bühnenrampe des Großen Saals, in dramatisches Dreivierteldunkel getaucht, warteten Notenständer auf ihn, für jeden seiner drei „Schattentänze“ eine Portion. Dort holte er aus diesen drei Klarinett-Kabinett-Stückchen alles heraus, was das Instrument mehr oder weniger freiwillig herzugeben bereit war: geschmierte Töne, Trillerkettchen, Hecheln, Spaltklänge, Geräuschiges, von Melodiepartikeln durchzogene Ahnungen von Musik.

In Runde zwei kamen weitere Spielereien dazu, auch das Klappern der Mechanik wurde Teil der Performance, im letzten Drittel reduzierte Widmann weiter, bis auf den Rhythmus an sich. Schöne Ideen, schön auch, solche Avantgarde-Einlagen bei einem derart populären Anlass zu präsentieren. Von der Radikalität eines Helmut Lachenmann waren diese Fingerübungen noch weltenweit entfernt, dennoch erweiterten sie wohl den einen oder anderen Erfahrungshorizont.

Überirdische Klangfarben und bewusstseinserweiternde Pilze

Etwas zu geschmeidig verspielt und selbstverliebt allerdings war das anschließende Orchesterwerk „Armonica“, für das Widmann als zwei Hinhörer eine Glasharmonika und ein Akkordeon ins Klangbild (prominenter Gast-Solist: Teodoro Anzellotti) platziert hatte, das vor allem auf L’art-pour-l’art-Effekte ausgerichtet war.

Dass die Kombination des sphärischen Geisterbahn-Säuselns einer Glasharmonika mit dem Sternenwind-Pusten eines Akkordeons, zugepudert mit Celesta-Glöckchen und viel Schlagwerker-Aufwand wie die Vertonung einer Lavalampen-Füllung klingt, verursacht einen gewissen Hörspaß. Es trägt aber noch kein Stück über die Ziellinie. Erst recht nicht, wenn es so weggetreten vor sich hinwabert, als hätte Messiaen sich eine Portion Spezial-Pilze gegönnt, um sein Bewusstsein für überirdische Klangfarben sehr weit zu erweitern.

Was blieb, aber letztlich auch nur bedingt als herausragend, aufregend gar im Gedächtnis? Beethovens Achte. Nicht die heroischste, stürmischste, allumfassendste der neun. Was sie im praktischen Umgang nicht leichter macht.

Im Beethoven suchte Nagano nach der Handbremse

Nach einem leicht verstolperten Beginn des Kopfsatzes suchte Nagano bis zum Finale vergeblich nach der inneren, noch angezogenen Handbremse. Leider fand er sie nicht, und so bewegte sich das Orchester sehr erwartbar durch das Stück. Ohne ein Gefühl für die federnde Leichtigkeit zu vermitteln, die dem energischen Vorwärtsdrang seiner thematischen Grundideen entsprochen hätte. Das Gefühl für Situationsdramatik und das Wechselspiel der Motive im Finalsatz wirkte eher unterprobt. Den freudigen Furor eines musikalischen Festakts musste man sich dazudenken.

Das Konzert wird am Mo 10.1., 20 Uhr, wiederholt. CD: Jörg Widmann „ARCHE“. Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg u.a. (ECM, 2 CDs, ca. 23 Euro)