„Annette“ ist ein Werk, das sich selbst infrage stellt. Der Regisseur Leos Carax erhielt beim Filmfest den Douglas-Sirk-Preis.

Gleich zu Beginn seines neuen Films „Annette“ sitzt der Regisseur Leos Carax in einem Tonstudio an einem Mischpult. „So may we start?“, ist seine Frage: „It’s time to start.“ Aber er sagt das nicht so daher, er singt es. Seine Mitarbeiter singen mit. Sie gehen auf die Straße, ziehen immer mehr Menschen an sich, auch die Schauspieler Marion Cotillard und Adam Driver. Ein Anfang mit Signalcharakter: Dies ist ein Musical. Aber ein abgründiges, eins, das sich selbst infrage stellt.

Dass Leos Carax einer der eigenwilligsten Filmautoren des Kontinents ist, das konnte man in Hamburg zuletzt beim Filmfest entdecken – dort erhielt er den diesjährigen Douglas-Sirk-Preis. Sein Werk ist in schmales, das aber doch nur Klassiker hervorgebracht hat wie „Die Liebenden von Pont-Neuf“, „Pola X“ und „Holy Motors“. Das Regiewunderkind der frühen 1980er-Jahre hat sich zu einem der größten Sonderlinge des Arthouse-Kinos entwickelt, der sein Publikum mit einer Fülle von originellen, visuellen Ideen beseelt, aber auch gern überfordert.

Filmkritik: „Annette“ ist ein abgründiges Kinomusical

Nun meldet sich der 61-Jährige furios zurück. Und überrascht erneut. „Annette“, der im Mai beim Filmfestival von Cannes den Regie-Preis gewann, ist seine erste englischsprachige Produktion. In der allerdings kaum gesprochen, sondern durchweg gesungen wird. Zu den Klängen der Brüder Ron und Russell Mael, die mit ihrer Band Sparks in der Elek­tro-Popmusik genauso schrille Paradiesvögel waren wie es Carax im Cinéma ist.

„Annette“ handelt von einer unmöglichen Beziehung zweier Künstler aus gegensätzlichen Welten. Hier die Oper und die Hochkultur, da die Spaßgesellschaft. Hier die ätherische Sängerin Ann Desfranoux (Marion Cotillard), der das Publikum zu Füßen liegt, da der finstere Comedian Henry McHenry (Adam Driver), der seine Zuschauer gern vor den Kopf stößt. Wie war die Show, fragen sie sich gegenseitig zur Begrüßung. „Ich habe sie fertiggemacht“, strahlt er. Sie kontert: „Ich habe sie gerettet.“

„Annette“ – ein bizarres Kunstwesen

Bei dem Opernstar verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Wenn Ann auf der Bühne in einem Kulissenwald steht, geht sie plötzlich durch echte Bäume und findet erst am Ende zur Rampe zurück. Da führt die Kunst in eine wahrhaftigere Erfahrungswelt. Der Comedian, der unter dem Künstlernamen „Ape of God“, Affe Gottes, stets im Bademantel auftritt, will nicht länger Bühnenaffe sein. Immer öfter lässt er seinen abgründigen Seiten Lauf. Schockt mit der falschen Beichte, er habe seine Frau getötet. Beschimpft sein Publikum. Und die Zuschauer buhen ihn aus – musicalgerecht im Chor.

Das größte Glück des ungleichen Liebespaares soll ein gemeinsames Kind sein. Aber was für ein seltsames Baby kommt da zur Welt: eine Puppe mit menschlichen Zügen, ein weiblicher Pinocchio mit großen Augen. Hier löst sich der Titel ein: „Annette“ heißt das bizarre Kunstwesen, und es entfremdet das Paar voneinander. Die Ehe wird zu einer Bootsfahrt auf stürmischer See, bei der die junge Mutter über Bord geht. Schon wähnen Polizisten die Mordfantasien des Comedian in die Tat umgesetzt. Dann beginnt die Tochter ihrerseits zu singen: noch engelhafter als die Mutter. Wie hieß es schon so schön im Auftaktsong des Films? „Wir pfeifen auf die Logik. Es war nicht der Plan.“

Adam Driver zeigt seinen Allerwertesten

Man könnte das als übertriebenen Kitsch abtun. Manche Szene, etwa der Beischlaf mit Gesang, wirkt wirklich unfreiwillig komisch. Carax aber wäre nicht Carax, würde er das nicht mit allem überzeugten Ernst und Pathos in Szene setzen. Und kein anderer hätte sich wohl auch getraut, toxische Männlichkeit zum Thema eines Filmmusicals zu machen.

Adam Driver ist momentan omnipräsent im Kino. Er war gerade erst im Mittelalterepos „Last Duel“ zu sehen und ist es noch im Intrigantenstadl „House of Gucci“. Bei Carax gibt er wieder den Ritter der dunklen Seite der Macht. Und macht sich nackig, buchstäblich: Dem Publikum zeigt er seinen Allerwertesten, um zu zeigen, was er von ihm hält. Aber auch im übertragenen Sinn, weil Driver singen muss, ohne wirklich die Stimme dafür zu haben.

Düsterer Film mit tragischer Ebene

Wie eigentlich immer bei Carax muss man sich auch hier fragen, wie autobiografisch sein Film eigentlich ist. Und auch da wird gleich am Anfang eine Fährte gelegt. Im Tonstudio ist nämlich auch ein junges Mädchen zu sehen: ­Nastya Golubeva Carax, die 16-jährige Tochter von Carax aus seiner Beziehung mit der Schauspielerin Yekaterina Golubeva. Die hat 1999 in seinem Film „Pola X“ gespielt, tauchte da unvermittelt in einem Wald (!) auf und brachte das Leben der Hauptfigur gehörig durcheinander. Am Ende des Films kam ihre Figur tragisch ums Leben. Golubeva starb 2011 im Alter von nur 44 Jahren tatsächlich – unter bis heute ungeklärten Umständen.

Hat Leos Carax deswegen so lange keinen Film mehr gedreht? Ist sein jüngster Film auch so etwas wie Trauerbewältigung? Die Parallelen drängen sich auf, Carax spielt selbst obsessiv mit solchen Elementen. Sie geben diesem ohnehin sehr düsteren Film noch mal eine ganz andere, tragische Ebene.

„Annette“ ab 12 J., im Passage und im Studio