Hamburg. Fast auf den Tag genau sechs Jahre haben die Fans auf das neue Album “30“ der britischen Sängerin gewartet. Hat es sich gelohnt?

Wenn man wissen will, wie das gehen soll mit dem Abliefern, dann muss man dieses neue Album von Adele hören. Es kam zwar nicht per Expresslieferung, wirklich gar nicht. Man musste fast auf den Tag genau sechs Jahre warten auf den Nachfolger von „25“. Aber es ist die mit ziemlicher Sicherheit wichtigste Pop-Stimme der Gegenwart, die sich entschlossen hat, der Welt ein paar neue Lieder zu schenken, und diese Stimme kann nicht scheitern.

Wie sollte sie das angesichts dieses Volumens und der konsequenten auf Mainstream und Zeitgeist zielenden Arrangements? Wie sollte Adele je in eine Sackgasse laufen, wo sie doch auch aufgrund der relativen Verknappung — vier Alben in 13 Jahren — nie Gefahr liefe, mit ihrem fortgesetzten Programm des Herzeleids zu langweilen.

Neues Album von Adele: Umwerfendster Comebacktitel

Die das neue Album „30“ einläutende Single „Easy On Me“ war in ihrer Perfektion der umwerfendste und stimmigste Comebacktitel, den man sich denken kann. Enttäuschung, Hoffnung, etwas geht zu Ende und etwas fängt neu an, die universelle Geschichte von Trennung und Aufbruch also: Das funktioniert ja nicht allein wegen des Klaviers und des Videoclips, der Lyrics („Es gibt keinen Raum, Dinge zu ändern/Wenn wir beide so in unseren Wegen feststecken/Du kannst mir nicht absprechen, es wirklich versucht zu haben“) und des Gesangs. Sondern weil alle Welt weiß, dass Adele sich vor einiger Zeit von ihrem Mann scheiden ließ. Und dass da viel Kummer herrschen musste, gerade, weil ein gemeinsames Kind von den Vorgängen betroffen ist.

Zwei Dinge passierten nach der Veröffentlichung des Stücks. „Easy On Me“ beruhigte die Welt oder zumindest den Teil, der die 33-jährige britische Ausnahmekünstlerin liebt. Es ist ja alles beim Alten, Herzen brechen auch stellvertretend für andere, oder sie brechen gemeinsam. Bei Adele im Kinoformat, bei uns auf dem Smartphonedisplay. Die Beruhigung in unseligen Zeiten ging mit Rekorden einher, die das Popbusiness braucht, um aufregend zu sein. In 25 Ländern Nummer eins, Abermillionen von Streams (auf YouTube allein sind es derzeit mehr als 160 Millionen), öfter wurde bislang in der ersten Woche nach Erscheinen noch kein Stück im US-Radio gespielt.

Adele hat sich äußerlich sehr verändert

Zum anderen gab Adele Watkins, die sich rein äußerlich sehr verändert hat und nun schlank und sportlich ist (nicht das schlechteste Ventil für Bewältigungsnotwendigkeiten), der Talk-Königin Oprah Winfrey ein Interview und sprach darin über das Ehe-Aus („Peinlich, dass es so schnell ging“), über Panikattacken und mögliche neue Kinder, über die späte Versöhnung mit ihrem Vater. Ein Blockbustergespräch, wie es die Leute letztlich eben doch lieben. Dabei ist es doch so, dass bei allen Werbeeffekten (für die, die tatsächlich noch nicht wussten, dass das erfolgreichste Album des Jahres vor der Tür steht) ein Song wie „Cry Your Heart Out“ vollkommen ausreicht, um so tief wie auch immer in die Seele einer Frau zu blicken.

Es ist gar nicht mal unbedingt ein Song, wie ihn nur Adele performen könnte, und doch ist er fantastisch gerade aufgrund seiner Eingängigkeit. Die am Ende eben doch von dieser Künstlerin und alldem, was an ihr dranhängt an, nun ja, Projektionen, Authentizität und gekonnter Selbstinszenierung, geadelt wird. Eines von vielen Upbeatstücken auf „30“, das in fröhlichem Gewand von todtraurigen Verhältnissen erzählt: „When I walk in a room, I'm invisible, I feel like a ghost/All my friends keep on tellin' me this feeling won't last/I can't get no release, I'm so tired of myself, I swear I'm dead in the eyes/I have nothin' to feel no more/I can't even cry“. Auch „Oh My God“ und „Can I Get It“ haben vom R&B gelernt, und wenn dann eine Akustikgitarre und eine unverschämt gutgelaunte Pfeiferei einsetzt (grenzwertig!), weiß man, dass zur globalen Hitformel eben auch immer die Erbauung zählt. Es muss und soll einem nicht schlecht gehen, wenn man eine Frau von ihren Lebensniederlagen singen hört.

Neue Adelesche Sound-Cheesiness

Wahrscheinlich werden nicht alle das mögen, was man als neue Adelesche Sound-Cheesiness bezeichnen könnte. Dabei ist der dezente Einsatz von Elektronik überzeugend ins Werk gesetzt. Man kann sogar sagen, dieser neue Kniff ist nicht nur logisch, er gewinnt Adele für diesen Moment die richtigen Effekte. Dieses Album ist der Beweis, dass Berechnung im Pop ihren Platz hat, dass sie sein muss bei den Superstars, die alle Menschen berühren wollen.

Adeles bewährter Partner Greg Kurstin hat "30" größtenteils produziert, und er hat für den Soul und die Backgroundchöre gesorgt, die einen vollen Klang ergeben und, auch das, dieser Jahreszeit ihren Soundtrack verpassen. Genial, wie sich alle Besinnlichkeitsassoziationen, die sich an dunklen Tagen einstellen, im Frühling verflüchtigen dürften. Diese Songs sind zeitlos, aber die Traurigkeit — nur Zyniker wenden sich bei dem wahrlich herzzerreißenden „My Little Love“ ab, habt einmal Mut, flennt euch die Augen aus — von „My Little Love“, in dem Adele ihren Sohn direkt adressiert und die Trennung von dessen Vater zu erklären versucht, lässt sich wohl nicht vertreiben.

Blumen auf dem Friedhof von Adeles Herz

„I’m taking flowers to the cemetery of my heart“, mit diesen Wort hebt diese Platte an, ich lege Blumen am Friedhof meines Herzens ab. Dann kommen verdächtige Streicher, es glitzern ein paar Synthesizer, dieses „Strangers by Nature“ ist wirklich ein Fest für sich, eine Hommage an Judy Garland. Songs wie Schneeflocken, Verse voller Kraft und Zartheit, eben noch da und schon verschwunden. So wie die Liebhaber, die aber doch immer irgendwie bleiben:„For all of my lovers, in the present and in the dark/Every anniversary I'll pay respects and say I'm sorry/For they never stood chances if they could“.

Die Coda dieses Albums, dessen verhältnismäßige Schwächen („I Drink Wine“, vielleicht?) vor der Gesamtheit des Eindrucks verblassen, ist der Song „Love Is A Game“. Er ist auf die denkbar heiterste Weise desillusioniert, so wie es sich für die amtierende Königin der romantischen Fehlschläge gehört. Adele, die Frau, die Steine erweicht mit ihren Tränenbächen, ist wieder der größte Popstar des Planeten.