Hamburg. Prominente Schauspieler bei Eröffnung auf Kampnagel. Es gab bewegende Momente, doch das Konzept des Abends ging nicht immer auf.

Das 13. Hamburger Theater Festival beginnt mit Fabian Hinrichs. Im goldfarbenen Einteiler streift er durch die Besucherreihen in der ausverkauften Kampnagel-Halle und arbeitet sich an albtraumhaften Kindheitserinnerungen ab: Züchtigung, Unverständnis, Einsamkeit. Diese Erinnerungen rühren oft an, sind manchmal banal und gewiss nicht immer angenehm, aber immer wieder bittersüß: „Angeln ist eben auch wichtig!“

Das Publikum reagiert verhalten. Ein bisschen hat die Atmosphäre etwas von Schockstarre. Das hier sind eben keine elegant geschwungenen Theaterklassiker-Sätze, sondern Ausschnitte aus dem Programm „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“, das Hinrichs gemeinsam mit René Pollesch im Berliner Friedrichstadtpalast auf die Bühne gebracht hat. Ein von zeitgenössischem Lebensgefühl durchtränkter, durchaus mutiger Auftakt. Die Erwartung einer unterhaltsamen, lukullischen Eröffnung unterläuft der Abend also schon mal sehr geschickt und konsequent.

Theater, so Festival-Leiter Nikolaus Besch, müsse seinem Publikum auch mal etwas zumuten und zutrauen. Die Erleichterung darüber, dass alle hier zusammenkommen können, ist ihm bei seinen Begrüßungsworten anzumerken. Die 13. Ausgabe des privat finanzierten Gastspiel-Reigens aus Produktionen, die an renommierten Stadttheatern Erfolge gefeiert haben, ist nach der Pandemie-bedingten Absage im vergangenen Jahr auf eine Woche verkürzt. Dafür gab es aber eine einmalige finanzielle Unterstützung durch die Kulturbehörde.

Kampnagel: Ungewöhnlicher Theater-Festival-Auftakt

Der ungewöhnliche Festivalauftakt mit „Die glorreichen Sieben“ ist ein einmaliges Projekt. Eine literarisch-musikalische Abfolge von Szenen aus bereits bestehenden Theater- und Literatur-Programmen, von Regisseur Jan Bosse eingerichtet. Der Clou daran: Er versammelt Solo-Auftritte von einigen der größten Stars des deutschsprachigen Theaters. Neben Fabian Hinrichs sind auch Ulrich Matthes, Caroline Peters, Dagmar Manzel, Constanze Becker und Fritzi Haberlandt zu erleben. Aus den „Glorreichen Sieben“ sind gleichwohl die „Glorreichen Sechs“ geworden, da Tobias Moretti krankheitsbedingt absagen musste.

Dagmar Manzel vollbringt das Kunststück, hinter einem Holzkasten verborgen – nur ihre Lippenbewegungen sind in einem Lichtkegel zu sehen – Samuel Becketts sprachmächtigen existenziellen Redeschwall „Not I“ einer traumatisierten Frau in den Siebzigern beklemmend mit Leben zu füllen. Caroline Peters hat für ihre Lesung, die sie in eleganter Abendrobe im Stehen hält, einen druckfrischen Text der deutsch-britischen Autorin Katharina Volckmer mitgebracht.

Wie sie nun in „Der Termin“ den Besuch einer deutschen Frau bei einem jüdischen Arzt schildert, wo sie sich in einem Akt zwischen Sexual- und Hitlerkomplex ein „jüdisches Geschlechtsteil“ anoperieren lassen will, rührt an aktuellen Debatten über kulturelle und sexuelle Identität, ist aber keine leichte Kost. Peters’ geradlinige Artikulation kehrt den Scharfsinn und auch den Humor des Textes deutlich hervor.

Auch die wunderbare Fritzi Haberlandt steht auf der Bühne

Mit Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ steht die wunderbare Fritzi Haberlandt im Kunstpelz-Mantel als etwas verlorene Doris auf der Bühne, arm und liebesbedürftig und im Berlin am Ende der Weimarer Republik zwischen Männerbekanntschaften gestrandet. Haberlandt ist in dieser Rolle mit ihrer Mädchenhaftigkeit, Unsentimentalität aber auch Verletzlichkeit immer sehenswert. Am Ende singt sie eine herzzerreißende akustische Blues-Version von Whitney Houstons „I Wanna Dance With Somebody“, die die Musikerin Carolina Bigge mit gezieltem, sparsamem E-Gitarreneinsatz untermalt.

Musikalisch überzeugt auch Dagmar Manzel mit dem ironischen „Bevor ick sterb“ von Otto Reutter, am Klavier begleitet von Frank Schulte. Constanze Becker wiederum bringt ergreifend intensiv die Männer-Klage-Ballade „Surabaya Johnny“ aus dem Brecht/Weill-Werk „Happy End“ zu Gehör. „Surabaya-Johnny, warum bist du so roh? Surabaya-Johnny, mein Gott, ich liebe dich so.“

Solo-Nummern und Monologe folgen auf einer weitgehend puristischen Bühne aufeinander, auf der nichts von der Präsenz der hier versammelten schauspielerischen Großkaliber ablenkt. Und doch offenbart sich auch eine Schwäche des Abends. Jan Bosse und das Ensemble haben wirklich originelle und vielfältige Texte und Songs ausgewählt, die sich zudem thematisch alle irgendwie um Endlichkeit, Liebe und Begehren drehen.

Konzept des Abends geht nur bedingt auf

Ehrfürchtig schaut man etwa einer Constanze Becker zu, wie sie einen besonders dramatischen Moment aus der „Medea“-Inszenierung von Michael Thalheimer nur an eine schwarze Wand gelehnt abruft, ohne ja zuvor die Entwicklung, die sie dorthin geführt hat, durchlaufen zu haben. Chapeau! Gleichzeitig fehlt dieser Kontext auch schmerzlich, weshalb das Konzept des Abends mit all den radikalen Wechseln nur bedingt aufgeht.

Ulrich Matthes benötigt für den Höhepunkt des Abends gleichwohl lediglich einen Tisch und einen Stuhl – und seine Präsenz. Er hat eine Kurzgeschichte des Hamburger Autors Wolfgang Borchert ausgewählt: „Schischyphusch“.

Und wie er da bis ins Detail ausgearbeitet zwischen einem unglücklichen Kellner und einem selbstbewussten, kriegsversehrten Onkel mit je schwerem Sprachfehler sowie einem das Ganze beobachtenden Neffen wechselt, ist wirklich große Kunst und sorgt bei manchem Zuschauer für einen geradezu erlösenden Lacher.