Hamburg. Ewelina Marciniak adaptiert am Thalia Theater 1100 Seiten von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Die Schauspieler sind eine Wucht.
Eberhard in Reihe fünf hat Pech. Weil Eberhard bei der Premiere von Olga Tokarczuks „Die Jakobsbücher“ am Thalia das erlebt, was man im Theater grundsätzlich nicht erleben will: Eberhard wird angespielt. André Szymanski fragt von der Bühne herab nach dem Namen des armen Zuschauers, bittet um ein bisschen mehr Beleuchtung. Szymanski plaudert, er ist charmant und verbindlich, er scheucht einen Kollegen weg, der langsam mal weiterspielen möchte, er lässt Eberhard vergessen, wie unangenehm die Situation tatsächlich ist. Er ist: ein Menschenfänger. Wie Jakob Frank.
„Die Jakobsbücher“ erzählen als historischer Roman Jakob Franks Leben nach: Im 18. Jahrhundert gründete dieser eine Sekte, die die jüdische Bevölkerung im damaligen Polen-Litauen aus der Autorität der Rabbiner befreien wollte. Frank scharte eine ansehnliche Gefolgschaft um sich, knüpfte Allianzen mit der Politik, intrigierte gegen Gegner (mit tödlichen Folgen) und wechselte mühelos zwischen Staaten und Religionen, vom Judentum zum Islam zum Katholizismus, von Podolien nach Istanbul nach Wien.
Eine echte theologische Wirkung freilich hatte Frank nicht erzielt, als er 1791 im (protestantischen!) Offenbach starb. Dennoch: Literarisch gibt seine Geschichte einiges her. Nachdem Tokarczuk 2019 den Literaturnobelpreis erhielt, wurde sie von der polnischen Regierungspartei PiS angegriffen – die Rechtskatholiken hatten verstanden, dass die Autorin auch über die Gegenwart schrieb, wenn sie Franks Leben nachzeichnete. „Er ist ein Flüchtling“, heißt es an einer Stelle über Frank. „Er ist Jude. Und Muslim. Und seit Kurzem auch noch Katholik.“ Ein Albtraum für Verfechter einer homogenen Leitkultur.
„Die Jakobsbücher“: Als es um Sex geht, wird es nervtötend
Der umfangreiche Roman liest sich mit Gewinn, einerseits weil hier ein in Westeuropa heute weitgehend unbekannter Aspekt der Geschichte lebendig wird. Andererseits weil Tokarczuk (beziehungsweise das Übersetzerteam Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein) alle paar Seiten den Tonfall ändert, von detailgenauen Figurenbeschreibungen wechselt sie zur sanften Ironie, von harter Sozialkritik zu magischem Realismus. Aber funktioniert der Stoff im Theater?
Regisseurin Ewelina Marciniak (die vor zwei Jahren mit Szczepan Twardochs „Der Boxer“ ebenfalls eine Prosavorlage fürs Thalia adaptierte) übernimmt Tokarczuks heterogene Erzählhaltung und wechselt ebenfalls ständig die Regiehandschrift. Heißt: Abstrakte Tanzpassagen kippen urplötzlich in derben Klamauk, ein Bruch der vierten Wand wird zum konventionellen Dialogtheater, klare Jetztbezüge verschwinden im Puppenspiel.
Langweilig ist der Abend also nicht, trotz dreieinhalb Stunden Spieldauer. Er ist aber: inkonsistent, als Bühnenkunst faszinierend und dennoch nervtötend in seiner Selbstbezüglichkeit. Am deutlichsten wird das in den Passagen, in denen es um Sex geht (und das geht es in Franks Sekte, die sich irgendwann der freien Liebe öffnet, recht häufig). Hier schafft es Marciniak, gleichzeitig zeigefreudig und verschämt zu inszenieren – auch eine Leistung.
Thalia-Schauspieler sind eine Wucht
Aber: die Schauspieler! Szymanski ist als Frank eine Wucht, voll präsent und immer ein wenig neben sich, jemand, der Wert darauf legt, dass es gar nicht unbedingt um ihn gehen sollte (und dabei forciert, dass sich alles ausschließlich um ihn dreht). Rosa Thormeier als seine Frau Chana: von atemberaubender Brüchigkeit. Jirka Zett als Biograf Nachman ben Lewi: ein Bürokrat des Seelenheils. Julian Greis als katholischer Pfarrer Benedykt: ein Wohlmeinender, der vor lauter Toleranz gar nicht versteht, was um ihn passiert. Und, und, und.
Selbst kleinste Nebenrollen sind hier sehr fein gearbeitet, alle Figuren haben ihre Eigenarten und Widersprüche, die gar nicht explizit ausgespielt werden müssen und der Inszenierung doch ihren Charme geben. Außerdem: die Spiegelbühne Mirek Kaczmareks! Die Kostüme Julia Kornackas! Der überirdisch schöne Gesang von Mariana Sadovska, die in der Rolle von Franks sterbender Großmutter Jenta die Handlung ins Magische weitet!
Nach der Pause verliert die Inszenierung (beziehungsweise die Stückfassung von Jarosław Murawski) ein wenig die Form. War der Abend bis dahin konzentriert auf Franks Biografie, taucht der Sektengründer bis kurz vor Schluss gar nicht mehr auf, stattdessen werden auf der Bühne Positionen erörtert: zu Feminismus, zu Nationalismus, zu religiöser Toleranz. Tatsächlich kommt Marciniak hier näher zu sich, wird klarer, was sie eigentlich erzählen möchte: Es geht nicht darum, einen Roman mehr oder weniger gelungen fürs Theater zu gewinnen, es geht darum, Fragen zu formulieren.
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Das wäre jetzt der Punkt, an dem die Inszenierung weitergehen könnte, an dem sie tatsächlich einen Diskurs in die Gegenwart aufmachen könnte, zu Identitätspolitik etwa oder zur Demokratiekrise. Dass sie es am Ende nicht macht, hat auch damit zu tun, dass das Konzept des biografischen Erzählens als Theater dann doch ziemlich gut funktioniert.
„Die Jakobsbücher“ sind schon die fünfte Romanadaption dieser Hamburger Spielzeiteröffnung. Und vielleicht die künstlerisch ergiebigste. Weil Marciniak einerseits ehrlich versucht, an den Kern der Vorlage zu kommen, auch um den Preis, dass sie die über 1100 Seiten von Tokarczuks Roman nicht einmal annähernd abbilden kann. Andererseits weil die Inszenierung um die Vergeblichkeit dieses Versuchs weiß. Was aber auch bedeutet: Am Ende bleibt der Versuch vergeblich.
„Die Jakobsbücher“ wieder am 20. September, 4., 6., 15. Oktober, 19 Uhr, 16. Oktober, 15 Uhr, Thalia, Alstertor, www.thalia-theater.de