Hamburg. Die Schriftstellerin stellte beim Harbour Front Festival ihren neuen Roman „Kairos“ vor – vom Niedergang einer Liebe und eines Staates.

Archäologin sei ihr Berufswunsch gewesen, seit sie als Mädchen Steine gesammelt habe. Nun sind es keine Steine mehr, sondern Erinnerungen, Geschichten, Gedanken; in gewisser Weise habe sich ihr Wunsch also erfüllt, sagt die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck mit feinem Lächeln, sie sei nun eine Frau, die sich „durch die Zeitgeschichte hindurchgräbt“. Der Ort, an dem sie ihren neuen Roman „Kairos“ nun im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals vorstellte, passte auch insofern: ein Museum (nämlich der Galionsfigurensaal des Altonaer Museums), kein Literaturhaus, kein Konzertsaal.

„Ich wollte über die DDR schreiben“, sagt Erpenbeck dort also im Gespräch mit dem Kulturjournalisten Volker Weidermann, „ich wollte ein Museum in Buchform schaffen.“ Und das gelingt ganz unbedingt. „Kairos“ (erschienen im Penguin Verlag) erzählt, benannt ausgerechnet nach dem Gott des rechten Augenblicks, eine doppelte Geschichte des Niedergangs: vom Zusammenbruch der DDR und vom Zusammenbruch der zunehmend ungesunden, heute würde man wohl sagen: toxischen Liebesbeziehung zwischen der 19-jährigen Katharina und dem sehr viel älteren, sehr viel verheirateteren Roman- und Rundfunk-Autor Hans. „Als sein erstes Buch erschien, war sie gerade geboren.“

Im Ost-Berlin der mittleren 1980er-Jahre begegnen Katharina und Hans einander zufällig, sie begehren einander, verfallen einander. Doch während im Hintergrund ein ganzer Staat auf seine Auflösung zusteuert (auch das Sterben sei nur das „Aufhören von Etwas“, sagt Hans an einer Stelle), driftet auf diesem schwankenden Fundament auch die heimliche Liaison auf Schmerz, Gewalt, Besessenheit, Abhängigkeit und Verlassenwerden zu.

Neuer Roman von Jenny Erpenbeck: Die Protagonistin macht Grenz-Erfahrungen

Mit ihrer weiblichen Hauptfigur teilt Jenny Erpenbeck das Geburtsjahr und also mindestens die Wendeerfahrung, die sich im Buch wiederfindet: Die Wiederbegegnung mit der eigenen „verschütteten Vergangenheit“ sei „seltsam“ gewesen, gesteht sie im offenen Gespräch, mehr noch: „Ich habe mich an nichts mehr erinnert.“ Vielleicht sei der Abstand zu den Ereignissen erst jetzt groß genug, um sie so genau zu durchdringen, so präzise auch die Zwischentöne zu benennen – und dabei doch das Erstaunen und auch eine Empörung zu bewahren. „Es hat mich interessiert, was ein Übergang ist. Durch den Mauerfall rutschte die Gegenwart in die Vergangenheit. Darüber wollte ich schreiben.“

Es sind Grenz-Erfahrungen ganz unterschiedlicher Natur, die vor allem Katharina macht. Ihre Erinnerung daran ist auch eine Form von Trauerbewältigung. Und es gelingt Jenny Erpenbeck nicht nur, die Amour fou auf das Eleganteste mit der politischen Weltlage zu verschlingen, sondern dabei fast en passent auch das Porträt eines ostdeutschen, lässigen, bisweilen leicht arroganten, auch inzestuösen Kultur-Milieus zu schildern, das ihr selbst, die aus einer schreibenden Intellektuellen-Familie stammt und später unter anderem eng mit Heiner Müller zusammen arbeitete, sehr vertraut gewesen sein muss.

Dass dieser kluge, sinnliche, komplexe Roman nicht einmal auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis auftaucht, ist wirklich verblüffend. Aber am Ende vielleicht auch nicht mehr als ein Lächeln und ein Achselzucken wert: Der „New Yorker“ hatte Jenny Erpenbeck erst im Sommer porträtiert. Und sie darin als eine mögliche Kandidatin für den Literaturnobelpreis genannt.