Hamburg. Geschichtsunterricht, politische Aufrufe, Musik und ergreifende Erzählungen verbinden sich zu einem gelungenen Lesung-und-Konzertabend.

In den Wahlkampf wolle er nicht eingreifen, sagt Ferdinand von Schirach zu Beginn seiner Lesung im ausverkauften Großen Saal der Elbphilharmonie. Politisch wird es am Ende dennoch, als der ehemalige Strafverteidiger aus seinem aktuellen Buch mit dem Titel „Jeder Mensch“ vorliest. Es ist ein schmales Bändchen von nur 32 Seiten, aber es steckt Kritik an der EU-Charta darin, die nicht weit genug gefasst sei. Schirach fordert für EU-Bürger unter anderem ein Anrecht auf eine gesunde Umwelt, faire Produkte und den Schutz vor Manipulation durch Digitalkonzerne.

Dieses Plädoyer sei heute noch eine Utopie, doch vergleichbare Chartas wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 seien ebenfalls utopische Entwürfe gewesen. Schirach spielt zum Beispiel auf den Satz „Alle Menschen sind gleich“ an, der angesichts der Sklaverei in den USA mit der Realität nichts zu tun gehabt habe.

Ferdinand von Schirach: "Man darf die Regierung friedlich abwählen"

Dieser Teil des Abends mit der Beschreibung der Freundschaft zwischen dem frühen US-Präsidenten Thomas Jefferson und dem französischen General Marquis de Lafayette hat etwas von Geschichtsunterricht, doch Schirach schafft es mit seinem umwerfenden Charme, nicht zu pädagogisch zu werden.

Er setzt seine Punkte und macht seine gesellschaftspolitischen Ansichten sehr überzeugend deutlich. Das Publikum folgt ihm, denn die Ausführungen werden mit langem Beifall quittiert. Einen Satz zur Aktualität sagt er dann doch noch: „Demokratie bedeutet nicht, dass die Besten regieren. Aber man darf die Regierung friedlich abwählen.“

Harbour Front Festival ist Schirachs erster Auftritt seit anderthalb Jahren

Der Abend in der Elbphilharmonie gehört in die neue Reihe Harbour Front Sounds, mit dem das Literaturfestival Sprache und Musik miteinander in Einklang oder auch konfrontieren möchte. Schirach hat den jungen koreanischen Pianisten William Youn mit in den Konzertsaal gebracht. Dieser gilt als Schubert-Experte und zeigt bereits beim ersten Impromptu seine überragende Anschlagstechnik.

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Im weiteren Verlauf des Abends hat er Stücke von Johann Sebastian Bach aus dem „Wohltemperierten Klavier“ und aus den „Goldberg-Variationen“ ausgewählt, die zwischen Schirachs Lesungen erklingen. Der Schriftsteller ist nicht nur über seinen musikalischen Partner hocherfreut, sondern auch über die Gelegenheit, sich seinem Publikum zu präsentieren. Es ist sein erster Auftritt nach Ausbruch der Pandemie vor eineinhalb Jahren.

Elbphilharmonie-Hygienekonzept als Teil der Lesung

In seinen Werken, so düster und tragisch sie oft wirken, steckt oft ein lakonischer Humor. Den zeigt Schirach zu Beginn, als er Passagen aus dem Hygienekonzept der Elbphilharmonie vorträgt. Besonders gefallen haben ihm die Anweisungen für die Blechbläser und die Vorschriften über das Reinigen der Instrumente mit Einzeltüchern, die dann auch entsorgt werden müssen. Und zwar vom Blechbläser oder der Blechbläserin selbst.

Etwas irritiert berichtet er dem Publikum auch, dass er nur auf der Bühne zwischendurch Wasser trinken dürfe, und nicht, während er sich bei Youns Klaviervorträgen hinter die Bühne zurückziehe. „Da sind zu viele Kabel“, sei ihm erklärt worden.

Schirach hat seine Depression öffentlich gemacht

Ergreifend sind zwei der Erzählungen, die Schirach für den Abend ausgewählt hat, gebannt hört das Publikum zu. Die Stories sind schnörkellos erzählt und eng mit dem Leben des Autors verbunden – auch die Geschichte eines depressiven Teenagers, der versucht, sich mit einer Flinte das Leben zu nehmen. Zum Glück ist er so betrunken, dass er vergisst, eine Patrone ins Gewehr einzulegen.

Schirach hat seine eigenen Depressionen öffentlich gemacht und er hat sie literarisch verarbeitet – genau wie seine Erfahrungen als Anwalt und seine Gedanken zu Verbrechen, Schuld und Strafe. Beim Harbour Front Festival beweist er einmal mehr, dass er zu den herausragenden literarischen und intellektuellen Stimmen in Deutschland gehört.