Hamburg. Aber das engagierte Ensemble ist die Stärke des Abends, die Präsentation des Musical-Klassikers in Hamburg ist schwungvoll.

Die bis auf einige Podeste leere Bühne ist mehr Konzertsaal als Theaterraum. Die Wütenden, die sie zuerst vom Zuschauersaal des Altonaer Theaters aus erobern, kennen kein Pardon. In Military-Kostümen und mit gehörntem Fell-Kopfschmuck rufen sie „Wir sind das Volk!“ und „Ich bin ein Patriot“. Unschwer sind sie als rechter Trump-Mob der Kapitolstürmer vom Januar dieses Jahres zu erkennen – einer der Tiefpunkte der Demokratie in der jüngeren Geschichte der USA.

Ein anderer war der von 1955 bis 1975 dauernde Krieg in Vietnam. Er inspirierte die Autoren Gerome Ragni und James Rado und den Komponisten Galt MacDermot 1968 zum Frieden-Liebe-Glück-Musical „Hair“. Und auch an diesem Abend wird das Zeitalter des „Aquarius“ im gleichnamigen unvergesslichen Song beschworen.

Altonaer Theater: Schauspieler brüllen sich an

In der von Franz-Joseph Dieken sehr frei inszenierten „Hair“-Version, die die Spielzeit im Altonaer Theater eröffnet, stehen junge Performerinnen und Performer auf der Bühne (Sabine Kohlstedt, Ivonne Marcour) als eingeschworene Gemeinschaft zwischen Neo-Hippies, Punks und Aktivisten.

Gewiss, es gibt gerade jetzt gute Gründe gegen die Elterngeneration aufzubegehren. Doch „The American Tribal Love-Rock Musical“ breitet die Konflikte lautstark aus, um sie anschließend in hippieskem Gesang zu versöhnen. Das führt dazu, dass sich die Kontrahenten auf Basis der Texte von Nico Rabenald in so ziemlich allen aktuellen Diskursen gegenseitig niederbrüllen. Vom Rassismus über die Homo- und Transphobie, den Klimawandel, den Kapitalismus, die Rechte der Frauen bis zum Tierschutz.

Jugend trägt moralische Überlegenheit zur Schau

Alles ehrenwerte Themen natürlich, die es gesellschaftlich zu bearbeiten gilt. In diesem Musical werden die Gegensätze allerdings plakativ ausgestellt, während die singende, von Volker Deutschmann bunt kostümierte Jugend sehr selbstgewiss ihre moralische Überlegenheit gegenüber dem Mob, prügelnden Polizisten, Präsidenten und militärischen Vorgesetzten vor sich her trägt. „Hass und Zerstörung sind die dunkle Seite der Macht.“ Da rufen die Rebellen: „Liebe ist die Antwort.“ Das ist dann doch ein bisschen grob geschnitzt.

Die Hippie-Kultur verstand sich ja keineswegs nur als politisch. Sie war mindestens ebenso hedonistisch, eskapistisch und stellte die eigene Freiheit über alles. Erst mit der Zeit wuchs sie über die reine Antihaltung hinaus. Und auch die sympathischen jungen, erfrischend diversen Leute hier verströmen zunächst einmal Lebensgier.

Patrick Stamme überzeugt mit Travestie-Nummer

Der von Martin Markert gegebene charismatische Anführer Berger gibt mit der stimmstarken Carolina Walker als Sheila ein perfektes Anführerpaar ab, zu dem sich als Dritter David Wehle als Claude gesellt. Er symbolisiert gekonnt den inneren Konflikt, als er sich einer Einberufung zum Wehrdienst stellen muss und zwischen dem neu entdeckten Pazifismus und seiner bürgerlichen Herkunft schwankt.

Patrick Adrian Stamme überzeugt in einer mit Verve vorgetragenen Travestie-Nummer. Nick Maia glänzt als Hud, der sich mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch gegen eine Horde Demonstrierender wendet, die in einer unerträglichen Täter-Opfer-Umkehr „White Lives Matter“ ausrufen. Luisa Melonie gibt eine tolle Jeannie ab, Melissa Holley eine kämpferische Chrissy.

Ensemble überzeugt im Altonaer Theater

Das engagierte Ensemble ist die Stärke des Abends. Neben den zeitlos klassischen, in ihren hymnischen Chören immer ein wenig an Sakralmusik erinnernden Soft-Rock-Melodien, von denen vor allem „Hair“ und „The Flesh Failures“ mit dem Refrain „Let the Sunshine in“ wirklich für die Ewigkeit geschaffen sind. Andreas Binder hat als musikalischer Leiter so manches Pathos herausgenommen, Sven Niemeyer die Truppe mit mehr oder weniger originellen Gruppentänzen und expressiven Posen versehen.

Das ist auf jeden Fall in der Präsentation kurzweilig, auch mitreißend. Es wäre auch zu schön, wenn die gegenwärtigen Weltprobleme mit ein paar schmissigen, lebensfrohen Songs zu heilen wären. Das gibt es nur im Theater.

„Hair“, weitere Vorstellungen bis 25.9., Altonaer Theater, Museumstraße 23, Karten unter T. 39 90 58 70; www.altonaer-theater.de