Hamburg. Drei Avantgarde-Jazzer und eine klassische Pianistin machen sich auf die Suche nach ganz neuer Musik. Das Ergebnis ist atemberaubend.

Kein vorsichtiges Herantasten, kein langsames Warmwerden, im Resonanzraum gibt es am Montagabend sofort das volle Brett. Tamara Stefanovich (Klavier), Christopher Dell (Vibrafon), Christian Lillinger (Schlagwerk) und Jonas Westergaard (Kontrabass) haben nicht zu viel versprochen, sie sind hörbar auf der Suche nach einer „neuen Neuen Musik“. Und diese Suche fällt, das ist nach Sekunden klar, explosiv aus.

Drei Avantgarde-Jazzer und eine klassische Pianistin, in der Mitte des Raumes beinahe in Kreisform angeordnet und mit direktem Sichtkontakt – das sorgt für ein Energiefeld, das sich bis in die letzte Publikumsreihe ausbreitet. Hier gibt es keine Solisten, denen andere eine Bühne bereiten, hier entsteht spontan ein pulsierender Klang-Organismus voll wilder Eruptionen, aber auch mit betörend leisen Passagen.

Lillinger lässt es quietschen, scheppern, knallen und flirren

Vor allem Lillinger zieht dabei die Blicke auf sich: Wie ein Derwisch bewegt er sich an oder auch mal neben seinem Schlagzeug, lässt es quietschen und scheppern, knallen und flirren. Überraschungsfreie Momente? Gibt es nicht. Wunderbar auch das Zusammenspiel von Dell und Stefanovich, die immer wieder Blickkontakt aufnehmen und sichtbar Spaß am kontinuierlichen Improvisationsfluss haben, der sich wohl am ehesten als Free Jazz beschreiben lässt. Für die Erdung sorgt mal zupfend, mal mit dem Bogen Jonas Westergaard, der zwar weniger auffällig agiert, aber mit seinen Läufen für dieses Quartett absolut unverzichtbar ist.

Eine gute Stunde dauert die „Echtzeitkomposition“, bei der, wie eine glückliche Tamara Stefanovich hinterher erzählt, nichts abgesprochen ist und auch das Ende nicht feststeht. Normalerweise ist sie bei Klassikern wie Bach und Bartók, Ives und Messiaen zu Hause, eine Grammy-nominierte Pianistin, die in aller Welt mit berühmten Orchestern konzertiert und die hier nun gleichermaßen frische Impulse bekommt und gibt.

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Das experimentierfreudige Berliner Label Bastille Musique hat das Potenzial dieses Quartetts erkannt, ein Album soll noch im Oktober eingespielt werden, die Veröffentlichung ist für April 2022 geplant. Es dürfte ähnlich packend wie dieses Konzert sein – und wohl doch ganz anders klingen.