Hamburg. Drei Violinsonaten und ein Extra: Die Geigerin und der Pianist reizten ihr Kammermusik-Programm in der Elbphilharmonie voll aus.

Eben noch hatte sie bei den Salzburger Festspielen mit ihrem „Dies Irae“-Programm radikal an die großen, fürchterlichen Menschheitsprobleme erinnert und den surrealen Clown in Schönbergs „Pierrot Lunaire“ gesprochend und verkörpert. Nun aber sollte es, fürs deutlich handzahmere Schleswig-Holstein Musik Festival hübsch gekämmt und mit sauberen Fingernägeln, einen handelsüblichen Sonaten-Abend mit zwei Publikumslieblingen und einem Außenseiter für Feinschmecker von ihr geben? L’art pour l’art, freundlich, unverbindlich, harmlos schön, lauwarm nette Kammermusik-Abendbespaßung womöglich? Bloß niemanden verschrecken oder verwirren? Natürlich nicht! Warum auch.

Natürlich war auch dieser Auftritt der Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Großen Saal der Elbphilharmonie weltenweit von diesem an Konventionen aufgehängtem Denkmuster entfernt. Mag sein, dass sie anders und glatter liefern könnte, aber ganz eindeutig will sie das nicht, um gar keinen Preis. Schubert, Brahms und Janáček klangen bei ihr vor allem nach ihrer sehr eigenen Perspektive auf die verstörenden Potenziale, nach dem vertonten Mut zum einzelgängerischen Anderssein dieser Werke. Diesen mit intensivem Nachdruck gewollten Verfremdungseffekt spielte sie – dort hatte er ja die tiefgreifendste Wirkung – im Abendunordnungspunkt eins, der Schubert-Sonatine D 385, am heftigsten aus.

Dieser Schubert war nicht fesch und gesellig plaudernd

Als erstes flog die Vorstellung, Schuberts Musik müsse oberflächlich herzerwärmend klingen, aus dem sprichwörtlichen Fenster. Kleines nettes Franzl, von wegen. Kopatchinskaja entkernte ihren Ton von jeglicher Beschaulichkeit, auf selig schmachtende Vibrato-Mehlspeisen aus dem guten alten Wien konnte man bei ihr lange und vergeblich warten.

Höchstens hier und da, als kleines Hübschheitsschimmerchen genehmigte sie sich eine kurze Andeutung, mehr nicht. Stattdessen reduzierte sie die Klangfarben auf fahl und die Strukturen auf brüchig; sie spielte ihre Phrasen nicht mal eben leicht heraus, sie schob oder zog die widerspenstig und erkämpft wirkenden Töne eher aus dem Instrument. Dieser Schubert war nicht fesch und gesellig plaudernd, der war ständig arg kurz vor dem Kollaps.

Fazıl Say als geichgesinnter Gegenpart am Flügel

Damit das so konsequent möglich und schlüssig war und um die Innenspannung über vier Sätze straff zu halten, brauchte es einen entsprechend anders gepolten und doch geichgesinnten Gegenpart am Flügel. Sie der Bad Cop, er der Good Cop, gewissermaßen. Fazıl Say, seit vielen Jahren ihr Stamm-Partner für Kammermusik und ebenfalls nicht für allzu große Rücksicht auf Befindlichkeiten oder Erwartungen bekannt, übernahm diese Rolle gern. Wo Kopatchinskaja die Musik vehement an Schmerzgrenzen brachte, hielt er immer wieder mit wehmütiger Klangschönheits-Träumerei dagegen. Gespielte Dialektik.

Brahms’ 3. Sonate op. 108 kam mit deutlich weniger Konflikt-Verschärfung aus. Später Brahms bedeutet schließlich so gut wie immer, dass die Dramen und Reibungen schon überdeutlich ins Notengeflecht verwoben sind. Man muss nicht mehr allzu viel damit „tun“, man muss es allerdings wagen, sich dieser Herausforderung zur Überforderung so trotzig wie mutig zu stellen. Und in dieser Sonate wechselten die Zuständigkeiten deswegen auch: Hier war es eher Kopatchinskaja, die sich in den instrumentalen Dialog einordnete. Und Say war es, der jede gutbürgerliche, spätromantische Gediegenheit verschmähte, um seine Akkorde und Einwürfe lieber herzhaft in die Tastatur zu hämmern.

Immer brachialer gruben sich die beiden in ihre Noten

In der Janáček-Sonate trieben die beiden es auf eine packende, aufregende Spitze. Ihren ersten Einsatz bolzte Kopatchinskaja förmlich gegen den Klavierpart an, diese Musik sollte von innen deutlichst an den Gitterstäben aus Notenlinien rütteln. Immer freier, immer brachialer gruben sich die beiden in ihre Noten. Wohltemperiert war da nichts mehr. In der Ballada träumte die Geige weltvergessen in höchsten Lagen hauchzart vor sich hin, bevor sie wieder, noch manischer als vorher, die Extreme und Risiken suchten und fanden.

Nachdem in dieser Sonate die folkloristischen Elemente deutliche Wirkungsverstärker waren, wurden sie für die spontane Konzertverlängerung und anschließend für die Zugabe bravourös rasant in den Mittelpunkt gerückt. Zunächst in Ravels „Tzigane“, bei der Kopatchinskaja die Show ausgiebig genoss. Nach einem der „Rumänischen Tänze“ von Bartók tobte das Publikum, eine freundliche Kammermusik-Pflichterfüllung kein bisschen vermissend.

Konzert: 29. Oktober, 20 Uhr. Patricia Kopatchinskaja (Violine) / Sol Gabetta (Violoncello) mit Musik von Bach bis Ligeti. www.elbphilharmonie.de. Verkaufsbeginn am 7. September, 11 Uhr.

CD: „Beethoven / Ravel / Bartók / Say“ P. Kopatchinskaja, F. Say (Naïve, ca. 10 Euro)