Hamburg. „Happier Than Ever“ lotet die Schattenseiten des Ruhms aus. Und klärt die Frage, ob die 19-Jährige das Maß aller Dinge bleibt.
Neulich hat Billie Eilish mal wieder über ihre Oberweite geredet. In Wirklichkeit ging es in den sozialen Netzwerken, wo die Popsängerin („Meine Brüste sind größer als eure“) ihre Hater direkt adressierte, allerdings gar nicht um Geschlechtsmerkmale. Sondern darum, die Deutungshoheit zu behalten.
Über ihre Karriere, ihre Kunst und ihr Auftreten. Das sind alles große Themen, Billie Eilish, 19 Jahre alt und einer der allergrößten Popstars des Planeten, macht derzeit und nur zwei Jahre nach ihrem Durchbruch mit dem allein auf Spotify zwei Milliarden Mal aufgerufenen „Bad Guy“ bereits Bekanntschaft mit den Schattenseiten des Ruhms.
In der „Vogue“ hatte sich Eilish sexy in Corsage gezeigt
Und das bedeutet in ihrem Fall vor allem, dass sie ihre Freiheit verteidigen muss. Die Freiheit, Haut zu zeigen. In der „Vogue“ hatte sich Eilish zuletzt sexy in Corsage und Bodysuit gezeigt. Was die Selbstinszenierung angeht, war das eine kopernikanische Wende.
Die Kalifornierin Billie Eilish war vorher mit buntem Haar und Schlabberklamotten ans Licht der Öffentlichkeit getreten. Sie wolle, erklärte sie, nie alles von sich zeigen. So entging sie der Sexualisierung, ein Statement in diesen freizügigen Zeiten.
Verschlurft und schön, aufs Herrlichste vermählt
Nun also, rechtzeitig zur Veröffentlichung von „Happier Than Ever“, doch die Glamour-Version einer jungen Frau, die in ihrer Jugend erklärterweise mit ihrem Körper nicht klar kam und zum Deprimiertsein neigte. Im Stile klassischer Hollywood-Schönheiten und mit dezent verhangenem Blick posiert Eilish da vom Cover – als jüngere Schwester Lana Del Reys gewissermaßen. Im „Vogue“-Interview („Ich kann tun, was immer ich will“) erklärte Eilish sich übrigens selbstbewusst. Nach dem Imagewandel, den unlängst auch die mittlerweile gertenschlanke und deshalb ebenso angefeindete Adele vollzog, gibt es nun aber einige, die enttäuscht sind von der neuen Gewöhnlichkeit eines gerade noch ganz besonderen Vorbilds.
Gewöhnlicher oder nicht: Das Erscheinen des zweiten Albums nach dem Debüt „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ im Jahr 2019 ist in der Popbranche das vermutlich größte Ereignis in diesem Jahr. Der atemberaubende Erfolg der Künstlerin, die mit vollem Namen Billie Eilish Pirate Baird O’Connell heißt und ihre Laufbahn in enger Zusammenarbeit mit Bruder Finneas O’Connell startete, ist, wie immer in diesen Fällen, eine Wahnsinnsgeschichte. Immerhin ist der Sound des Duos aufgrund seiner Popularität so etwas wie das neueste Update des Mainstreampop.
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„My Future“ feiert trotzig, was immer da kommen mag
Hätte man vor, sagen wir, 30 Jahren einen Billie-Eilish-Song gehört, wäre das eine ästhetisch überwältigende, revolutionäre Erfahrung gewesen. Der Wow-Effekt, den ihre Hits („Bury A Friend“) heute hervorrufen, kommt dagegen von der perfekten Zusammenführung der vorgefundenen Elemente: Trap-infizierten Pop gab es noch nie als so passgenaues Amalgam wie von dieser jungen Frau, die das Verschlurfte und das Schöne aufs Herrlichste zusammenbringt. Dabei ist die auch von Lana Del Rey aufgeführte spezielle Beimischung des partiellen Unbeteiligtseins, die eine Form von Sinnlichkeit ist, bei Billie Eilish noch eine Spur aufregender. Überhaupt: Dieser Popstar, Erfolg ist aufregend.
Fünf neue Titel wurden schon vor dem Erscheinen des Albums, dessen Opener „Getting Older“ programmatisch ist, als Singles veröffentlicht. Der schöne, der inhaltlich nichts als schmerzende Folksong „Your Power“, in dem es um Machtmissbrauch in Liebesbeziehungen geht, sticht unter ihnen heraus. Man muss dann auch einfach mal sagen, dass Billie Eilishs Stimme, deren Engelsgleichheit unbestreitbar ist, vor allem anderen für die Überzeugungskraft ihrer Kunst einsteht.
In „My Future“ singt sie betörend vom nichts als positiven Ausblick auf das, was die Zukunft auch immer bringen mag („But I, I’m in love/With my future/And you don’t know her/And I, I’m in love/But not with anybody here/I’ll see you in a couple years“), und dass bei allem seelenvollen Mond-Ansingen (man beachte den animierten Videoclip) bald der Beat einsetzt, ist die spezielle Eilish-Textur. Nicht unbedingt unverwechselbar, aber ein Gütesiegel.
Das nervöse Innere einer Teenager-Berühmtheit
Das zweite Album wurde erneut von Finneas O’Connell produziert, es ist, das liegt in der Natur der Sache, reifer ist als der Vorgänger. Es ist kein Album wie aus einem Guss, es beansprucht keinerlei Abgeschlossenheit und ist eher eine Versammlung des Eilish-Schaffens der vergangenen Monate und Jahre: Dass das Album-Format keineswegs tot ist, beweist dieser schlüssige Songreigen dennoch. „Therefore I Am“, im November veröffentlicht, ist einer der eingängigsten Songs in der Eilish-Hit-Parade. Hier stechen ihre HipHop-Anleihen heraus, und es ist auch der Bass zu hören, der „Bad Guy“ formte.
16 Stücke zählt das Werk insgesamt, ein Eilish-Trip eher im Mid- als im Uptempo. Dem „I’m gettin’ older, I think I’m agin’ well“, mit dem es einsetzt, stehen all die Einwände entgegen, die vielleicht genau gegen diese Behauptung sprechen. „Happier Than Ever“ ist eine pluckernde, schwebende, nervöse Reise ins Innere einer Teenager-Berühmtheit, die mit dem Rampenlicht hadert. „Not My Responsibility“ spricht die Kritiker direkt an, die sich an Eilishs Körper-Bildern abarbeiten. „Male Fantasy“ dagegen ist ein schlichter, hübscher Liebeskummersong: Holt jeden ab, auch die Nicht-Superstars.
Das zweite Album, das vor der Veröffentlichung prächtig verknappt und als heißeste Ware inszeniert wurde, erfüllt seine Aufgabe fraglos. Billie Eilish, diese so irritierend junge Frau mit dem Gespür für den Popsound der Gegenwart, ist bis auf weiteres der Maßstab für gleichermaßen Mainstream-Erfolg und Kritikerlob.