Hamburg. Timo Blunck hat sich nicht nur einen angeblichen Sozialisten-Pophit ausgedacht, sondern auch den passenden Roman geschrieben.
„Fantastic late 70s GDR Agitprop-Pop from an unearthed tape”, so steht es, international verständlich, klar!, auf YouTube. Und fantastisch ist dieser fröhliche Marxismus-Song, den die Bereitsteller des Clips irgendwo ausgegraben haben, wirklich. Space-Pop, jazzig, einem Helden des Klassenkampfs gewidmet: „Wer ist tagelang schwerelos/Umgeben von Leere bloß/Ich, Sigmund Jähn“. Jähn war 1978 der erste Deutsche im All, ein Sieg für die DDR im Kampf der Ideologien.
Und aus ebenjenem Jahr stammt angeblich auch das Lied „Ich, Sigmund Jähn“. Gesungen von einer Frau namens Charlie Keller, auch das: angeblich. Was war das für eine Aufregung in den Kreisen derer, die gute Musik mögen und im Spätsommer des vergangenen Jahres glaubten, auf einen echten Schatz gestoßen zu sein!
„Zum Glück hat uns die Sache keiner krummgenommen“
Aber es war alles Fake. Ein glänzend inszenierter Spaß. In Wahrheit heißt die Sängerin, die da so Sozialisten-betörend und vom Sozialismus betört zu hören ist, Franziska Herrmann. So glänzend in Szene gesetzt wurde sie von Timo Blunck, früher Musiker bei den legendären Palais Schaumburg, heute noch aktiv mit Die Zimmermänner.
„Die Story um die Tonbänder der Marke ‚Orwo‘, die angeblich auf dem Flohmarkt am Lehmweg gefunden wurden, habe ich mir gemeinsam mit Carsten Friedrichs und Gunther Buskies von Tapete Records ausgedacht. Als der Song ‚Ich, Sigmund Jähn‘ dann aber so durch die Decke ging, machte uns das schon etwas Angst“, erzählt Blunck. Sie hätten „einen ziemlichen Shitstorm“ erwartet, als die Sache dann aufgelöst worden sei, „aber zum Glück hat uns die Sache keiner krummgenommen“.
Gut gefälscht ist halb gewonnen
Warum auch? Gut gefälscht ist halb gewonnen, und ein kompletter Sieg an der Popfront wird draus, wenn’s so fetzt wie „Ich, Sigmund Jähn“ und übrigens auch die anderen Marxismus-Knaller „Ernst Thälmann, mi amor“ und „Die Ballade von der Überlegenheit der sozialistischen Wissenschaft“. Es wird, nach diesem musikalischen Coup, aber noch besser.
Jetzt erschienen ist nämlich der Roman „Die Optimistin“, ein funkensprühender, anarchischer, schräger und tollkühner Roman aus der Feder Timo Bluncks. Der Inhalt grob umrissen: Eine im Seniorenheim lebende alte Dame nimmt vorübergehend den jungen Berliner Journalisten Toygar bei sich auf.
Geschichten von der Ostfront
Der von seiner Hochzeit getürmt ist. Er soll eine Türkin heiraten, hat da aber keinen Bock drauf. Leider sind aber der Onkel der Braut und dessen Söhne hinter ihm her, vor allem deswegen, weil Toygars Vater diesem Onkel Geld schuldet. Das ist aber nur die Rahmenhandlung. Das eigentliche Geschehen spielt sich im Kopf der alten Dame ab, die ihre kruden Geschichten unverdrossen dem unverhofften Gast zu Gehör bringt.
Und was sind das für Geschichten! Geschichten von der Ostfront, also dem tiefen Morast der deutschen und der Weltgeschichte. Der Vater der alten Dame soll dort sein Leben gelassen haben. Geschichten von der Reeperbahn, wo Ringo Starr, kein Geringerer als!, sie vor den Zudringlichkeiten anderer, besoffener Engländer schützt und ihr Liebhaber wird.
Unvermeidlicher Mark Twain
Sie schreibt für die Beatles „A Hard Day’s Night“. Sie spielt außerdem mit Heinz Erhardt, sie bewundert den „Seewolf“ in der Sauna („Raimund Harmstorf hat den schönsten Penis, dem ich jemals begegnet bin“), Jean Cocteau lernt sie auch kennen. Und Elvis. Vor allem aber wird Renate Meinhof ihre Freundin und, Tatsache, Songwriterin. Weil der Westen („Den Udo Lindenberg haben wir doch schon, was sollen wir denn jetzt noch mit ihrer Schwester?“) keine Verwendung für sie hat, wird Charlotte „Charlie“ Keller, denn keine andere ist diese Frau, eine Art Schlagerstar in der DDR.
Verrückt. Toygar hört sich all die Lebensschwänke der alten Charlie an, er erkennt, dass das alles ja gar nicht sein kann – und lauscht weiter wie gebannt. So wie Leserin und Leser dieses Romans. Der zitiert unvermeidlich Mark Twain („Never let the truth get in the way of a good story”) und ist, erklärt Blunck, typisch für seinen Verfasser: „Ich habe eine blühende Fantasie.
„Bei uns Bluncks heißt Flunkern ‚Blunckern‘“
Das beschränkt sich nicht nur auf das Bücher- oder Songschreiben. Auch im Alltag kann man sich darauf verlassen, dass ich den Fakten immer einen leichten Drall gebe.“ Er übertreibe und verschiebe Situationen an aufregendere Locations oder addiere ein paar Personen, um die Sache größer erscheinen zu lassen, „bei uns Bluncks heißt Flunkern übrigens ‚Blunckern‘“.
Da wird dann die Geschichte schon mal so umgebogen, dass historischen Figuren wie Ulrike Meinhof ein milderes Schicksal widerfährt. Das sei seine Lieblingsidee, wie Charlotte und Harmstorf der Terroristin eine neue Identität verschafften und diese fortan als sozialistische Schlagertexterin arbeitete.
Mit dem Popbusiness hat Blunck schon seit Jahrzehnten abgeschlossen
Kalauernd ist dieser popkulturelle, alternativhistorische Ritt durch ein Jahrhundert bisweilen, darauf muss man sich einlassen. Aber Bluncks Intention, seinen Büchern – auch zum Debüt „Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?“ gab es die dazugehörigen Songs – einen musikalischen Resonanzraum zu geben, ist fraglos hinreißend.
Seit knapp zwei Jahrzehnten betreibt Blunck in Hamburg eine Firma, die Musik für Film, Fernsehen und Werbung macht. Mit dem Popbusiness hat er laut eigenem Bekunden schon seit Jahrzehnten abgeschlossen. Blunck sagt: „Ich würde mich heute sowieso nicht mehr als Musiker bezeichnen, ich bin Autor. Es geht mir immer um die Idee, und die betrachte ich als universell. Die begrenzt sich auf kein Genre.“
Blunck forschte nach einer Schauspielerin, die singen kann
Für den Musik-Transfer Charlie Kellers brauchte er eine Frau, die jener ihre Stimme und gewissermaßen, für die Videoclips, ihr Aussehen leiht. Er sei auf der Suche nach einer Sängerin gewesen, die so klang, wie er sich Charlie Keller vorstellte, „irgendwo zwischen der jungen Nina Hagen und französischem Sixtys-Pop, sagen wir mal à la Françoise Hardy – das gibt es eigentlich nicht“.
„Ich schreibe aber klare Melodien, und das kann kaum noch jemand umsetzen, und außerdem spricht Charlie ja viel während ihrer Songs, wechselt immer zwischen Rezitativ und Gesang“, berichtet Blunck. Also habe er nach einer Schauspielerin geforscht, die singen kann. Schließlich fand er im Internet die Hamburgerin Franziska Herrmann.
Fan von Manfred Krug
Eine gute Wahl. Was die Kompositionen angeht, verließ sich Blunck auf seine althergebrachten Vorlieben. Er ist seit langer Zeit Fan Manfred Krugs und der Platten, die dieser zusammen mit Günther Fischer gemacht hat. Blunck: „Charlie Kellers Karriere in der DDR spielt etwas später als die guten Alben von Krug, also habe ich einfach so getan, als seien ihre Songs eine Weiterentwicklung der Krug/Fischer-Ära.“
Blunck, der im kommenden Jahr 60 wird, lebte lange in Louisiana und Kalifornien. Seine drei Söhne wuchsen alle in Amerika auf, leben mittlerweile aber in Berlin. Sie lesen, sagt Blunck, seine Bücher nicht, was im Falle von ‚Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?‘ auch ganz gut sei. Nur sein mittlerer Sohn Nic spreche seine Vatersprache, weil er als Einziger zwei Jahre in Hamburg zur Schule gegangen sei, „die andern beiden radebrechen höchstens“. Er selbst, sagt Blunck, sei seit 2016 nicht mehr in den USA gewesen, „seitdem Trump gewählt wurde“.
Zwischen das Amerika der Gegenwart und die untergegangene DDR passt, möchte man meinen, weitaus mehr als ein Ozean.
Lesung mit Musik am 25. April, 20 Uhr. Freier Livestream aus dem Knust über www.dringeblieben.de. Infos unter www.knusthamburg.de
Timo Blunck: „Die Optimistin“, Heyne Verlag, 352 S., 20 Euro