Hamburg. Piotr Anderszewskis Stream aus dem Großen Saal: So fesselnd, man vergisst fast, dass und warum man nicht in den Großen Saal darf.
Ein Auftritt ganz ohne Auftritt. Als der Live-Stream beginnt, sitzt Piotr Anderszewski schon am Flügel. Schwarzes Shirt, graue Hose. Schummerlicht im Großen Saal der Elbphilharmonie. Bloß kein Firlefanz.
Der polnische Pianist meidet die Show, auch mit seinem Programm. Johann Sebastian Bach, sonst nichts. Anderszewski spielt jeweils zwölf Präludien und Fugen aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers – und greift dabei musikalische Ideen auf, die er schon beim Auftritt in der Laeiszhalle im November 2019 angedeutet hatte.
Anderszewski ordnet Bachs Satzpaare in der Elbphilharmonie neu
Er ordnet die Reihenfolge der Satzpaare neu, um Bezüge zwischen den Tonarten aufzudecken und Kontraste hervorzuheben. Nach der Schwere der g-Moll-Fuge wirkt das Präludium in e-Moll plötzlich erstaunlich hell und leicht; das Präludium in f-Moll entfaltet seine wehmütige Eleganz umso schöner, wenn vorher die Fuge in C-Dur ihre forschen Schritte getanzt hat.
Piotr Anderszewski spielt das Wohltemperierte Klavier nicht bloß als Sammlung kontrapunktischer Meisterwerke, deren Liniengeflecht es zu durchdringen gilt, sondern spürt den Charakteren der Stücke nach. Bei der Fuge in F-Dur scheint der Flügel wie im Schluckauf zu hicksen, als Bach zur Tonart dis-Moll vordringt, erzählt der Pianist von Melancholie und sanftem Schmerz.
Sorgfalt im Detail, aber trotzdem im organischen Fluss
In solchen Momenten ist Anderszewski, der feinsinnige Tastengrübler, besonders stark. Mit differenziertem Anschlag erkundet er unzählige Nuancen zwischen Piano und Pianissimo, zwischen Tupfen, Streicheln und Klopfen. Wie präzise er jeden Ton modelliert, wie er das Stimmendickicht zugänglich macht: das ist beeindruckend. Aber eben noch nicht alles.
Piotr Anderszewski vereint diese Sorgfalt im Detail zu einem organischen Fluss. Rasche Sätze, die bei anderen Pianisten motorisch durchrattern, scheinen unter seinen Händen zu strömen, in manchen Passagen lernt der Flügel zu singen. Trotzdem ist die Interpretation alles andere als weichgespült. Dort, wo Bach chromatische Schärfen setzt, meißelt Anderszewski harte Klänge in die Tasten, er schreckt vor grellen Farben nicht zurück.
Ein fesselnder Konzertfilm fast ohne Irritationen – aber mit wackelnden Ohren
Dagegen setzt der renommierte Regisseur Bruno Monsaingeon auf eine dezente Bildsprache und verzichtet auf dramatische Farb- oder Tempowechsel. Er inszeniert den Saal als stimmungsvollen Hintergrund, mit Lichtern, die an Kerzenschein erinnern.
Alles kreist um die Musik, den Flügel, den Interpreten. Wir folgen seinen Händen auf den Tasten, beobachten, wie sich der kleine Finger schneckenhaft einrollt, sobald er nicht gebraucht wird und erleben das Minenspiel von Anderszewski hautnah, wenn Augenbrauen und Mund die Phrasen mitformen.
Manchmal lenkt die Nähe eher ab, etwa wenn man unfreiwillig mitbekommt, wie der Pianist mit den Ohren wackelt. Aber das ist eine von ganz wenigen Irritationen in einem fesselnden Konzertfilm, der über weite Strecken fast vergessen lässt, dass und warum wir gerade nicht live vor Ort dabei sein dürfen.