Hamburg. Der Roman der Autorin Hengameh Yaghoobifarah ist das Buch, über das derzeit am meisten gesprochen wird.

An der Aufmerksamkeitsbörse punktete Hengameh Yaghoobifarah ganz sicher, als der Bundesinnenminister sie wegen Beleidigung und Volksverhetzung im vergangenen Jahr vor Gericht bringen wollte. Vorher war die 1991 in Kiel geborene Frau, die sich heute als nicht-binär bezeichnet, sich also nicht ausschließlich dem einen oder dem anderen Geschlecht zuordnen kann und will, vor allem feministisch und an Genderfragen Interessierten ein Begriff.

 Im Zuge der George-Floyd-Affäre – der Afroamerikaner starb bei einem brachialen Polizeieinsatz – wollte die Journalistin Yaghoobifarah dann in einer „taz“-Kolumne die deutsche Polizei entsorgt wissen. Auf einer Mülldeponie („Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten“). Ein schwacher satirischer Einfall, der zwar keine rechtlichen Schritte nach sich zog (warum auch in einem Land mit Redefreiheit?), aber für Yaghoobifarah dennoch Folgen hatte.

Yaghoobifarah bekommt Morddrohungen

Die Autor:in – im Falle Yaghoobifarahs ist der Gender-Doppelpunkt die richtige Wahl – bekommt seitdem Morddrohungen und Personenschutz. Deutschland im Jahr 2021: Hau verbal einen raus in einer Kolumne, und du bist deines Lebens nicht mehr sicher.

Immerhin: Yaghoobifarahs literarisches Debüt zieht nun ein gewaltiges Interesse auf sich. „Ministerium der Träume“ ist vielleicht der Deutschland-Roman der Stunde. Die außerliterarischen Vorkommnisse um Yaghoobifarah sind der Resonanzraum dieses Buchs, das von der Gegenwart als Schauer-Stück erzählt.

 Roman springt wild zwischen den Zeitebenen

Dabei greift die 30-jährige Autor:in historisch weiter aus. Ihre Heldin, die Ich-Erzählerin Nasrin, wanderte als Kind mit Mutter und Schwester aus Iran nach Deutschland ein. Der politisch verfolgte Vater schaffte es nicht aus dem Land heraus, er wurde hingerichtet. Aufwachsen in den Achtzigern und Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts in Lübeck („Für mich war diese Stadt immer ein grauer Ort der Trostlosigkeit, wo die Leute und das Wetter sich gegenseitig in ihrer Kälte zu überbieten versuchten“), dann gemeinsame Übersiedelung nach Berlin. Dort spielt der Roman größtenteils, und er springt recht wild zwischen den Zeitebenen.

Nushin, die Schwester Nasrins, wird Friseurin und Mutter einer Tochter, Parvin. Diese wird im Verlauf der Handlung eine große Rolle spielen. Nasrin selbst ist lesbisch und arbeitet als Türsteherin. Eine voll in der Queerszene aufgehende, mittlerweile Ü-40-Jährige, die ein metropolisches, sexuelles Lotterleben führt (aus Sicht und zum Kummer der konservativen Mutter) und von ihrer gedanklichen und körperlichen Rabiatheit von ferne an die Heldin in Fatma Aydemirs grandiosem Roman „Ellbogen“ erinnert. Mit Aydemir gab Yaghoobifarah, die in Buchholz/Nordheide aufwuchs, den Band „Eure Heimat ist unser Albtraum“ heraus.

Der Roman setzt mit dem Tod Nushins ein. War ihr Autounfall Selbstmord? Mord? Um die Klärung dieser Frage geht es auf den fast 400 Seiten des Romans, der sicher zu lang, vor allem aber schnell, bisweilen verblüffend und in mancherlei Hinsicht immer ungnädig ist. Porträtiert wird ein den Einwanderern unfreundlich gesinntes Land.

Versagen der Behörden

Die ausländerfeindlichen Anschläge nach der Wende, später die Terrorakte des NSU, sind Marker für die Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist. Die NSU-Mordserie wird diesem auch hier noch nicht zugeordnet: Man wusste ja, ein Versagen der Behörden, nicht, dass es diesen gibt.

Im Roman spiegelt sich diese Blindheit des Staates im Todesfall Nushins. Die Polizei ermittelt in die Richtung eines Milieuverbrechens. Dabei hatten Nushin, Nasrin und ihre Freundinnen und Freunde in der norddeutschen Provinz früh mit Nazis zu tun. „Ministerium der Träume“ ist auch ein Spannungsroman, in dem die Peergroup von einst wieder in ihr Leben tritt, als Nasrin dem Geheimnis hinter dem Tod der Schwester unbedingt auf die Spur kommen möchte. Weil sie auf dieser Suche den Zeichen wie auf einer Schnitzeljagd folgt, gerät sie in einen Strudel des Vergangenen. Dieser Thriller-Plot ist nicht ohne logische Mängel, aber reizvoll.

 Liebesinteresse abseits des Mainstreams

Aber die eigentlich Stärke des Buchs liegt paradoxerweise in seinem Bemühen, einer gleich doppelten Außenseiteridentität mit rotzigem Aplomb zu ihrem Recht zu verhelfen. Als bi-kulturale Zuwanderin gehört Nasrin wie ihre Freunde zu einer Minderheit. Diese Kinder der Migranten tun sich im Lübeck der Neunzigerjahre zu einer autonomen Gruppe zusammen, um den Faschos etwas entgegenzusetzen: „Wir hatten keine Lust, uns darauf zu verlassen, dass sich Politiker:innen irgendwann vielleicht einen Ruck gaben und Beileidstourismus betrieben. Auf Charity-Schutz hatten wir genauso wenig Bock. Sie wollten ein reines Gewissen, wir wollten ihr Mitleid nie.“

Dazu kommt im Falle Nasrins das Liebesinteresse abseits des Mainstreams. Nasrin spricht oft so auftrumpfend und salopp und neudeutsch wie in diesem Satz: „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, außer dass das Geheimnis meiner ewigen Jugend Queerness heißt und dass ein Leben ohne cis Männer die Haut besser pflegt als die teuerste Skin-Care-Routine“.

Zeugnis der Beschwernisse und Bedrohungslagen migrantischer Deutscher

Beides zusammen, das Gender- und das Migranten-Motiv, weist von der Protagonistin auf deren Schöpfer:in. Hengameh Yaghoobifarah legt mit „Ministerium der Träume“ – im Roman wird vor allem gealbträumt, einmal ist von einer „Traumafabrik“ die Rede – eine German Horrorstory vor, in der der Blick auf die „Kartoffeln“ und die „Annikas“ bestimmt nicht zu freundlich ist.

Hengameh
Yaghoobifarah:
„Ministerium der
Träume“,
Blumenbar Verlag.
381 S., 22 Euro.
Hengameh Yaghoobifarah: „Ministerium der Träume“, Blumenbar Verlag. 381 S., 22 Euro. © Unbekannt | Unbekannt

Es ist ein Zeugnis der Beschwernisse und Bedrohungslagen migrantischer Deutscher, dargereicht in der ungeschliffenen, sprachlich manchmal nur scheinbar aufs Ganze gehenden Form des Kriminalstücks. Und über das Ende könnte man mit der Autor:in vielleicht auch mal reden. Vielleicht in nach-coronischen Zeiten auf einer Lesung.

Dann hoffentlich ohne Polizei vor der Tür.