Hamburg. Dicht an der Partitur führt Regisseur David Bösch seine Figuren, in der Sopranistin Elsa Dreisig hat er eine ideale Hauptdarstellerin.

Eine Amour fou ohne Kuss? Wie soll das gehen am The­ater? Die schlichte wie unbefriedigende Antwort: Es muss gehen, schließlich herrscht Corona. Also schmachten die junge Manon und ihr Geliebter Des Gri­eux einander aus mehreren Metern Entfernung an, breiten die Arme aus, bewegen sich aufeinander zu und dann doch aneinander vorbei. Dass das nicht unfreiwillig komisch wirkt, sondern glaubwürdig, verdankt sich einer unauffälligen, aber hauchfeinen Personenregie.

Der Regisseur David Bösch hat „Manon“ des Franzosen Jules Massenet an der Staatsoper auf die Bühne gebracht. Mitten im Lockdown erlebte das Werk am Sonntag gleichsam eine doppelte Premiere am Ort seiner deutschen Erstaufführung: Sie war in der Geschichte des Hauses die erste ohne Live-Publikum. Die Aufführung wurde im Radio und per Livestream übertragen; ab Mittwochabend kann die Aufzeichnung zwei Tage (und Nächte) lang auf der Staatsopernseite nachgeschaut werden.

Musik der „Manon“ ist mit ihrem Stoff aufs Feinste verwoben

Zwei junge Menschen begegnen einander zufällig und entscheiden sich wider Vernunft und Familienräson für die Liebe. Manon wird Des Grieux für ein Leben in Glanz und Reichtum verraten und später zu ihm zurückkehren, doch das Glück hat keinen Bestand. Den Stoff, basierend auf einem Roman des Abbé Prévost aus dem Jahre 1731, kennt das deutsche Publikum hinreichend aus der Oper „Manon Lescaut“ von Puccini. Massenet hingegen führt auf den hiesigen Spielplänen eher ein Schattendasein. Dabei war er im ausgehenden 19. Jahrhundert der führende Opernkomponist Frankreichs.

Es erschließt sich sofort, warum. Die Musik der „Manon“ ist mit ihrem Stoff aufs Feinste verwoben. Massenet begleitet seine Figuren aus der Nähe. Seine Musik weiß alles, ob sie sich für scheinbar flüchtige Momente melancholisch einfärbt und Einblick in Manons Seeleninneres gewährt oder ob sich das Orchester im zweiten Akt im Staccato spottend am Streitgespräch zwischen drei Männern beteiligt.

Die Personen führt Bösch dicht an der Partitur entlang

Die Personen führt Bösch schön dicht an der Partitur entlang. Ohne Mätzchen und ohne kokett zu verrätseln, erzählt er die Handlung und holt sie in eine nicht näher verortete Jetztzeit. Falko Herold hat die Figuren in heutige Alltagskleidung gesteckt und den sonst bei „Manon“ verbreiteten Rokokokleidern und Puderperücken eine Absage erteilt. Wo doch die Zeiten der Belle Époque, in der die Oper entstand, von überbordender Ausstattungslust geprägt waren.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Hinter der scheinbaren Simplizität verbirgt sich ein Perspektivwechsel. Für Bösch geht es in „Manon“ nicht primär um moralische Fragen. Auch bei ihm erliegt Manon den Versuchungen des leichten Lebens. Wie die Beteiligten über die Zeit abrutschen, wie Party und Glamour in Elend und Verfall enden, das führt die Drogenkarriere von Manons Vetter Lescaut (lebhaft gesungen und gespielt von Björn Bürger) gleichsam beiläufig vor. Im Mittelpunkt aber steht Manons Selbstbestimmtheit. Manon lebt, was und wie sie will, ohne Rücksicht selbst im Angesicht des Todes.

Bösch unterstreicht diese Sichtweise, indem er ihr als einziges Gepäck eine Katzen-Transportbox in die Hand drückt und ihr mit dem imaginären Tier gleichsam ein Abbild ihrer eigenwilligen und unberechenbaren Persönlichkeit zur Seite stellt. Falko Herold und der Bühnenbildner Patrick Bannwart nehmen das Element spielerisch auf und projizieren zur Ouvertüre und zu den Orchesterzwischenspielen eine weiße Katze auf den Vorhang – ansonsten hält sich das Video übrigens angenehm zurück.

Vielen geistreiche Regieeinfälle

Es ist anrührend zu erleben, wie die zu Beginn erst 16 Jahre alte Manon allmählich begreift, welche Wirkung sie auf die Männer hat, wie sie sich im Spiegel ihrer anbiedernden bis groben Verehrer ihrer selbst bewusst wird. Dass sie einen ihrer Verehrer förmlich anfaucht, ganz Katze, ist nur einer von Böschs vielen geistreichen Regieeinfällen. In der Sopranistin Elsa Dreisig hat er eine ideale Darstellerin. Sie verwandelt sich in Manon mit Haut, Haar und Herz, mit allem Übermut und allen Abgründen. Vor allem aber singt die junge Französin mit jener Natürlichkeit und Mühelosigkeit, die in der Kunst allerhöchste Beherrschung verraten. Tastend und lyrisch zu Beginn, hochvirtuos bei den Koloraturen des berühmten „Je marche… obéissons“ im dritten Akt – nie gerät die Stimme an ihre Grenzen.

Im vergangenen Sommer hatte die Sängerin in der Salzburger „Così fan tutte“ international Aufsehen erregt. An der Dammtorstraße nun ist sie der strahlende Mittelpunkt eines bis in die Nebenrollen überragenden, typgenau gecasteten Sängerensembles. Ioan Hotea leiht dem Des Grieux seine frei fließende, nie knödelige Tenorstimme und steigert sich im Lauf des Abends zu geradezu heldischer Leidenschaftlichkeit. Massenszenen, die die französische Oper so liebt, kommen im Zeichen der Pandemie nicht vor. Die große Festszene im dritten Akt glitzert im Show-Ambiente, doch die Sänger des Opernchors hat man in die Ränge verbannt, schön einzeln. Die Abstimmung mit Orchester und Bühne klappert unweigerlich.

Elsa Dreisig im Abendblatt-Podcast:

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Das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Sébastien Rouland dagegen lässt sich weder von den Abständen noch von der geringeren Besetzungsgröße den Schneid abkaufen. Dominique Spagnolo hat die Massenet-Partitur stark eingedampft. Weniger Bläser, weniger Schlagwerk, kleinere Streicherbesetzung, das bedeutet: Die Musik erklingt wie unter der Lupe, die Strukturen treten hervor, und die haben es in sich, harmonisch und rhythmisch. Die live-typischen Winzigkeiten beiseite, meistern die Beteiligten das glänzend. Am Orchester liegt es nicht, dass die Bühne gelegentlich hinterherhängt. Bis auf Dreisig, die zu allem anderen auch noch ein Wunderwerk an Präzision abliefert.

Diese „Manon“ zeigt, auf welchem Niveau das Haus inzwischen wieder arbeitet. Wenigstens darum brauchen wir uns im Moment keine Sorgen zu machen.

„Manon“ ist ab Mi 27.1., 18.00, für 48 Stunden abrufbar unter www.staatsoper-hamburg.de