Hamburg. Der Ex-Beatle hat in der Isolation seiner Farm das neue Album „McCartney III“ aufgenommen. Alle Instrumente spielte er selbst.

Die Jahre der Dekadenwechsel sind immer auch Beatles-Jahre. 1940 wurde John Lennon geboren, 1960 spielten die Beatles erstmals in Hamburg und begannen sich als richtige Band zu verstehen, 1970 lösten sie sich auf, 1980 wurde John Lennon erschossen. Aber irgendwas jährt sich ja immer bei dieser unfassbar talentierten Band mit drei sehr guten Sängern und Songschreibern und einem passablen Schlagzeuger. Kleiner Scherz: Ringo Starr war und ist ein fantastischer Trommler.

Nun schreiben wir das Jahr 2020, und Paul McCartney veröffentlicht an diesem Freitag mit „McCartney III“ sein 19. Studioalbum. Vom Konzept her steht es, wie der Titel schon andeutet, in der Tradition von Vorgängern wie seinem ersten Solo-Album „McCartney“ (1970) und „McCartney II“ (1980). Diese Alben nahm der heute 79-Jährige im Alleingang auf, produzierte sie und spielte alle Ins­trumente selbst ein. Schließlich ist Sir Paul gelernter Gitarrist, der bei den Beatles auf den E-Bass umstieg und auch am Schlagzeug eine gute Figur machte:

Multi-Instrumentalist McCartney trommelte schon bei den Beatles

Auf dem „Weißen Album“ trommelte er bei „Back In The U.S.S.R.“, „Dear Prudence“ und „Martha My Dear“, während Ringo nach einem Streit Urlaub in Italien machte. Und als Gelegenheitsschauspieler Ringo durch Dreharbeiten verhindert war, spielte Paul als Schlagzeuger mit John die Single „The Ballad Of John And Yoko“ ein, der letzte Nummer-eins-Hit der Beatles in Großbritannien. Auch Klavier, Mellotron, Banjo, Mandoline, Violine, Cello, Kontrabass, Bouzouki, Mundharmonika, Trompete und knapp 40 weitere Instrumente hat er in seiner langen Karriere nachweislich gespielt.

Genug auszuprobieren gab es also als Zeitvertreib auf seiner Farm in Sussex, wohin sich Paul in der Pandemie zurückgezogen hat. Nur Tochter Mary und ihre Familie leben auch dort, Pauls dritte Ehefrau Nancy hält sich in New York auf. So machte Paul aus dem Lockdown einen „Rockdown“, wie er es nannte. Wie vor 50 Jahren „McCartney“ entstand „McCartney III“ auf dem Land, und Tochter Mary, die 1970 auf der Plattenhülle zu sehen war, machte die Fotos für das 2020er-Album. Auch ist „III“ deutlich experimenteller als seine üblichen Alben, etwa „Egypt Station“ (2018).

Das neue Album basiert auf älteren Songideen

Denn ob als Beatle oder als Solist: Lieder hat McCartney mehrere Hundert geschrieben, und vieles blieb als Skizze oder Idee oder Ansatz liegen. „Das ist doch der totale Müll, grauenhaft! Komm schon“, zitierte er sich kürzlich selber in der „GQ“, um zu beschreiben, wie er reagiert, wenn ein Lied nicht seiner eigenen Qualitätskontrolle standhält. Für „McCartney III“ hat er sich einiges an älterem Material noch einmal vorgenommen, es ist also ein Album der Wiedervorlagen, was es aber nicht schlecht macht.

Die Kritik, der Meister belangloser Singspielchen und Balladen zu sein, begleitet McCartney schon seit „Yesterday“ ebenso wie die Tatsache, dass er auch der Mann für räudige Rocknummern wie „Helter Skelter“ oder „I’m Down“ war. Die das neue Album einklammernden Start- und Schlusslieder „Long Tailed Winter Bird“ und „Winter Bird – When Winter Comes“ bilden diese komplette Bandbreite ab. Auch McCartneys für sein Alter bemerkenswerter Stimmumfang wird komplett ausgenutzt. Wenn man ein Lied nicht sofort an seinem Gesang erkennt, ist da bereits sein typisches, kurz angezupftes, puckerndes Bass-Spiel.

„Deep Deep Feeling“ ist über acht Minuten lang

McCartney ist also ganz der Alte, der wirklich schon jeden Stil – „II“ war doch sehr elektronisch – ausgekostet hat, Synthies, Loops und Beats finden sich jetzt auch in „Find My Way“. Es ist sowohl Stilmittel als auch Notbehelf, da er eben alles alleine machen musste. Aber die heutigen technischen Mittel beherrscht er genug, um sie nicht in den Vordergrund zu stellen. Schon mit George Martin und den Beatles machte er in den 60er-Jahren von Album zu Album aufnahmetechnisch Quantensprünge, da weiß er, dass man auch mit geringen Mitteln viel erreichen kann.

Nehmen wir „Deep Deep Feeling“: Im Grunde dreht sich dieser über acht Minuten lange, elegische Brocken um eine simple Schlagzeugfigur, die auch von Ringo stammen könnte. Wie eigentlich kein anderer Schlagzeuger der Popgeschichte verstand es Starr bei den Fab Four, sein Spiel komplett in den Dienst des Songs zu stellen, ihn mitzuspielen, mit Kesseln und Becken zu komponieren. Dafür musste er nicht wie ein Irrsinniger sein Set verdreschen wie ein Keith Moon. Beatles-Klassiker wie „Come Together“, „Strawberry Fields Forever“ oder „A Day In The Life“ kann man nur am Schlagzeugspiel erkennen. McCartney folgt seiner Schule, und im Gesamtbild ist „Deep Deep Feeling“ einer der besten Songs seiner Solo-Karriere.

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McCartneys Optimismus bleibt unerschütterlich

Klar, man muss auch mal einen raushauen und die Verstärker richtig aufreißen. Aber das ist ja kein Problem, wenn man auf einer Farm lebt und der nächste Nachbar fern ist. In „Lavatory Lil“ besingt er eine Toilettenfrau, vielleicht die von damals, aus dem Indra. Und „Slidin’“ ist famos knarzender Stoner-Rock, der Meistern dieses Genres wie Queens Of The Stone Age oder Brant Bjork Respekt abnötigen dürfte. Wobei QOTSA-Boss Josh Homme ohnehin ein großer Fan der Beatles, besonders des „Weißen Albums“, ist.

Aber keine Sorge, der Mann, der uns „Ob-La-Di, Obl-La-Da“ geschenkt hat (Danke für nichts, Paul!), ist jetzt nicht über Nacht ein depressiver Progressive- oder zugedröhnter Kiffer-Rocker geworden. Die simplen, aber eingängigen Melodien und der unerschütterliche, tröstliche Optimismus dominieren auch „McCartney III“: „Du lässt dich von deinen Ängsten überwältigen, lass mich dir helfen und dein Lotse sein“, singt er in „Find My Way“, die Pandemie begleitend. Es wäre interessant zu wissen, wie John Lennon dieser Song gefallen hätte, der Mann, der „Help!“ rief und in „Imagine“ von einer besseren Welt träumte. So ist es mit den Liedern von Beatles und Ex-Beatles: Sie sind zeitlos, weil die Welt ist, wie sie ist. Leider, muss man sagen.