Hamburg. Die Premiere von Daniel Kehlmanns „Die Reise der Verlorenen“ im Altonaer Theater berührt dank der Schauspieler im flexiblen Bühnenbild.
Was derzeit die Welt beherrscht? Gewiss, die Corona-Pandemie. Da geraten Geschichten von Verfolgung und Vertreibung einmal mehr in den Hintergrund – ob nun im europäischen Mittelmeer oder auf den Ozeanen. Kaum Bilder – wenig Neues?
Das sah 2015 bis 2018 noch anders aus, als Berichte über Irrfahrten von Flüchtlingsschiffen zwischen Malta, Italien und Griechenland unsere Nachrichten beherrschten. Damals feierte „Die Reise der Verlorenen“ am Theater in der Josefstadt in Wien deutschsprachige Erstaufführung, das vierte Stück des Bestsellerautors Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“).
Indes ist „Die Reise der Verlorenen“ auch ein Hamburger Stück Zeitgeschichte. Ein Grund mehr für Intendant Axel Schneider, dieses auf einer wahren Fluchtgeschichte basierende Drama als Co-Produktion mit dem Münchner Regisseur und Tournee-Theaterbetreiber Thomas Luft ins Altonaer Theater zu bringen. Und ein Unterfangen, mit dem er keinen Schiffbruch erlitten hat, wie nicht bloß der minutenlange Beifall bei der Hamburger Premiere und vereinzelte Bravo-Rufe für die Darsteller zeigten.
Kehlmann-Stück zeigt Irrfahrt der „St. Louis“
Kehlmann stützt sein Schauspiel auf das Sachbuch „Voyage of the Damned“ der US-Journalisten Gordon Thomas und Max Morgan-Witts über die Irrfahrt der „St. Louis“, damals das erste und größte Motorschiff der Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) für die transatlantische Passagierschifffahrt.
Damals, im Mai 1939, als die Nationalsozialisten in Deutschland ihr menschenverachtendes System längst zementiert hatten, hierzulande schon Angst und Schrecken verbreitetet hatten und sich der Zweite Weltkrieg anbahnte, machten sich fast 1000 deutsche Juden vom Hamburger Hafen aus Richtung Kuba auf. Von dort hofften sie, in die USA weiterreisen zu können, in die Freiheit.
Doch sie, die teilweise ihr letztes Geld für die Überfahrt zusammengekratzt hatten, sollten in Havanna keine Einreise-Erlaubnis erhalten. Stattdessen machten sie eine nervenzehrende Odyssee durch, wurden nach ihrer Rückkehr früher und später fast alle von den Nazis ermordet.
Immer wieder treten die Schauspieler aus der Rolle
Das führt die Figur Otto Schiendick dem Publikum schon am Anfang vor Augen. Er ist nicht nur Steward, sondern auch der NSDAP-Ortsgruppenleiter an Bord. „Ich bin ein kleiner, missgünstiger Wicht, der sich plötzlich rächen kann“, sagt er. Dieser Schiendick wird sich im Laufe der folgenden 100 Minuten zum Antipoden des Kapitäns aufschwingen, unterwegs in geheimer Mission, um von Havanna zurück nach Hamburg für die Nazis einen Mikrofilm zu transportieren.
Konstantin Moreth spielt Schiendick bissig als kleinen Dämon, der auch die Zuschauer nicht verschont: „Falls Sie wirklich nicht wissen, wie Sie gehandelt hätten, dann wissen Sie es schon. Dann hätten Sie gehandelt wie ich.“
Dieses Stilmittel des Aus-der-Rolle-Tretens bemüht Autor Kehlmann im Folgenden mit seiner Figuren immer wieder. 25 verschiedene sind es, verkörpert von acht Schauspielerinnen und Schauspielern, teilweise fallen sie mitten in einer Szene aus ihrer Rolle, um biografische Hintergründe ihrer Figur zu erklären. So entsteht ein Stück sehr gut gemachtes Dokumentartheater.
Dem lässt sich trotz vieler Rollenwechsel mithilfe einzelner Requisiten und Accessoires bei szenischen Sprüngen von Einzelschicksalen hin zu großen politischen Zusammenhängen weitgehend folgen. Es berührt, hätte an manchen Stellen noch etwas berührender sein können. Kurz sind die Spielszenen im mit historischen Video-Sequenzen auf Rollwänden angereicherten Bühnenbild, die Schauspieler sprechen meist frontal nach vorn, treten selten in direkten Dialog.
Georg Münzel füllt die Kapitäns-Rolle aus
Das gilt indes nicht für Nazi Schiendick und Kapitän Gustav Schröder. Aus ihrer Abneigung machen die beiden Protagonisten und Antipoden von Beginn an kein Geheimnis. Georg Münzel, in Altona zum Spielzeitauftakt in Ferdinand von Schirachs Diskussions-Stück „Gott“ als Bischof zu sehen und hören gewesen, füllt die schwierige, auch dankbare Kapitänsrolle überzeugend aus. Er steckt im steten Konflikt zwischen seiner Verantwortung für die jüdischen Passagiere und für seine Crew einerseits sowie den herrschenden politischen Verhältnissen andererseits.
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Traurig, aber wahr: Niemand will die Flüchtlinge aufnehmen. Nachdem er als Kapitän in Havanna vergeblich mit den kubanischen Machthabern über deren Einreise verhandelt hat und die US-Aministration auch das Anlaufen des Fluchtpunktes Miami verweigert hat, erwägt Schröder sogar, sein Schiff auf der Rückfahrt nach Europa absichtlich vor England auf Grund laufen lassen. Damit die Heimatlosen von der dortigen Küstenwache gerettet werden können.
Letztlich kann er sich auf der Brücke sagen: „Meine Ehre als deutscher Kapitän bleibt intakt.“ Nebenbei hilft er dem Kellner Leo Jockel, einem Juden, den Sebastian Prasse als einen seiner vier Charaktere einfühlsam spielt. Die „St. Louis“ darf schließlich in Antwerpen anlegen. Belgien, die Niederlande, Frankreich und England nehmen je ein Viertel der Flüchtlinge auf – eine zwar funktionierende, aber nur scheinbar lebensrettende Quotenregelung.
An den Landungsbrücken: Tafel für Kapitän Schröder
Gefangen sind die Geflüchteten nicht nur an Bord, die abgelehnten Einwanderer bleiben es in einem System aus monetären Interessen, Geschacher, Korruption und Machtkalkül, geleitetet von nationalen Interessen. Das Motto „Mit der Hapag reist man gut“, wie es Reederei-Direktor Holthusen (Roland Peek, spielt auch den kubanischen Minister Benitez) für die Hinfahrt verkündet hat, ist nur einer der zynischen Sätze.
Übrigens: An den St.-Pauli-Landungsbrücken, am Brücken-Durchgang 3, erinnert seit dem Jahr 2000 eine kleine Gedenktafel an Gustav Schröder (1885-1959) und seine Geschichte. Vor einem Jahr brachten drei Autoren zudem das Buch „Kapitän Schröder und die Irrfahrt der St. Louis“ heraus. Das Auswanderermuseum Ballinstadt zeigte 2019 die Sonderschau „St. Louis – Schiff der Hoffnung“. Die Erinnerung an jene Zeit zu bewahren, ohne allzu plump Bezüge zur Gegenwart herstellen, auch das kann Theater wie „Die Reise der Verlorenen“.
„Die Reise der Verlorenen“ Do 22.10., bis 22.11., jew. 19.30 (So 18.00), Altonaer Theater (S Altona), Museumstr. 17, Karten zu 17,- bis 35,-: T. 39 90 58 70; www.altonaer-theater.de