Hamburg. Die Sopranistin und die Amici Veneziani überzeugen mit Arien und Schlagern: atemberaubende Technik und Klänge.

Die Musik pocht und zittert. Leise, scharf, eiskalt schaben die Streicher, setzen rhythmische Akzente. So genial hat Vivaldi in seinem legendären Vier-Jahreszeiten-Konzert „Der Winter“ klirrende Kälte in Musik gesetzt. Dieses musikalische Bild benutzte Vivaldi auch für eine Arie in seiner Oper „Farnace“. „Gelido in ogni vena“, singt der Titelheld dort: „In jeder Ader fühle ich mein eiskaltes Blut fließen. Der Schatten meines leblosen Sohnes erfüllt mich mit Entsetzen.“ Ein Vater erkennt, dass er grausames Unrecht begangen hat. Vivaldis Arie ist ein Klassiker, die Sopranistin Simone Kermes setzt sie regelmäßig auf ihr Programm, auch diesmal bei ihrem Elbphilharmonie-Gastspiel mit dem Ensemble Amici Veneziani.

Das Stück lässt einen niemals kalt, zu stark ist diese Musik. Kermes’ leise Töne haben fast durchgehend Intensität, aber sie kokettiert auch noch mit dem Publikum, was eigentlich nicht nötig ist. Farnaces Arie mit der schockierenden Selbsterkenntnis stand in der Mitte des Recitals. „Himmel und Hölle“ war das Motto, unter dem italienischen Titel „Inferno e Paradiso“ erschien kürzlich eine CD. Dort wie im Konzert knöpft sich die feurige Sopranistin die „Sieben Todsünden“ vor und kontrastiert sie mit Tugenden, Farnaces eisige Arie sieht sie als Mäßigung von Zorn und Wollust.

Simone Kermes in der Elbphilharmonie: Das Auge hört mit

Ein düsteres Orchester-Allegro aus Boccherinis Sinfonia „La Casa del Diavolo“ stimmte auf Inferno und Paradies ein. Und dann: Bühne frei für Kermes! Viva la diva. Prall, leuchtendes Pink, ein opulentes barockes Rüschenkleid, hoher Kragen, ein schwarzer, mit Blumen verzierter Überrock, hinten so lang, dass er das Podium fegte, vorne gab er aber auch Bein frei, silbern glänzende High Heels. Simone Kermes weiß: Das Auge hört mit. Noch zweimal wechselte sie später das Kostüm, erst zu violetten Farbtönen und dann zu ganz schwarzem Stoff. Virtuos schmettert sie am Anfang die Hass-Arie „In braccio a mille furie“ von Leonardo Vinci in den Raum.

Tausend Furien halten eine verletzte Seele im Griff. Die Koloraturen explodieren, sie verraten immense Wut. Da ist Kermes in ihrem Element, atemberaubend ist ihre Technik, messerscharf jede Note. Heftig wippt sie rhythmisch. Barock wird zu Rock. Das wirkt, ist aber manchmal, weil es sich wiederholt, auch zu viel. Wie bekommt man solche negativen Gefühle in den Griff? Im Barock setzten die Menschen auf Gottvertrauen. Kermes lässt eine geistliche Arie aus dem Oratorium „San Nicola di Bari“ von Bononcini folgen: „Wann immer du meine Ketten löst, tragen mich meine Füße fort.“ Ruhig, besänftigend fließt hier die Musik.

Kontraste von Todsünde und Tugend

Die Kontraste von Todsünde und Tugend spiegelten sich musikalisch auch in den reinen Orchester-Stücken. Zum Beispiel in den zwei Sätzen von Vivaldis Concerto für Streicher d-Moll RV 128. Leidend, gequält wirkten die Punktierungen im Largo, entfesselt, atemlos jagte das Allegro dahin. Die Amici Veneziani servierten diese Musik rockig-fetzig, gingen auf volles Risiko und nahmen dabei einige Ungenauigkeiten in Kauf. Manchmal störte aber auch die nicht ganz exakte Intonation, wie beim himmlischen „Entrée d’Abaris“ aus Rameaus Oper „Les Boréades“, das die Musik zum Paradies einleitete. So etwas passiert halt im Live-Konzert, auch bei Simone Kermes.

Die lockerte das Recital zwischen den einzelnen Stücken mit kurzen Moderationen auf, verriet aber nicht, dass zwei Arien, die nicht im Programmheft standen, Bearbeitungen von Popsongs waren. Der finnische Arrangeur Jarkko Riihimäki hat sie geschickt in ein barockes Gewand gesteckt. Man vergisst, dass es sich um Stings „Fields of Gold“ und Lady Gagas „Poker Face“ handelte. Wirkungsvoll. Mehr davon gab es bei zwei von drei Zugaben, Udo Jürgens’ „Aber bitte mit Sahne“ und Marlene Dietrichs „Ich werde dich lieben“. Das liegt der Entertainerin Simone Kermes. Und dem Publikum gefiel’s.