Hamburg. Guter Sound, merkwürdige Gegenwart: Mit Inbrunst und Euphorie spielte die Hamburger Rockband bei den Stadtpark Acoustics.
Satter Gitarrensound schiebt sich in das grüne Rund des Stadtparks. Und im rot flackernden Bühnenlicht singt Jan Plewka seine ersten Verse: „Ein Tag erwacht / die Nacht war hell / Leinen los / wir steigen schnell“.
Bereits vor Corona konnte ein Konzert vieles sein: Aufbruch, Zäsur, Trost, Flucht, Verstärker. Doch in Pandemie-Zeiten wird so eine Show wie jetzt die der Hamburger Rockband Selig zu einem emotional besonders aufgeladenen Ereignis. Im Rahmen der Reihe Stadtpark Acoustics ist ihr Auftritt angelegt. Doch dieser Abend bietet – bis auf eine Ausnahme – alles andere als leisetretende Lagerfeuer-Romantik.
Selig im Stadtpark – das zündet
Kaum sind die vier Musiker mit Maske an den virus-gerecht aufgestellten Sitzreihen vorbei ins Rampenlicht getreten, steht alles unter Strom. Musik, Luft, Publikum. Plewka – Jeans und Shirt, Turnschuhe und Mütze – hängt sich rein, reißt die Arme immer wieder empor. Das zündet. Auf der Wiese wird aus gesetztem Mitwippen rasch stehendes Tänzeln vorm farbcodierten und personalisierten Corona-Konzert-Klappstuhl. Ein verhaltener kollektiver Eskapismus im Jahr des Social Distancing. „Und ich schau schau schau“, singt Plewka zusammen mit den Fans. Sich real angucken, in andere musikbegeisterte Gesichter blicken. Ein Luxus.
All das Glühen und Applaudieren macht kurz vergessen, dass die momentane Situation für Musikerinnen, Künstler und die gesamte Veranstaltungsbranche desaströs ist. Auch Selig wollten 2020 auf Tour gehen. Nun eben: einmal Winterhude. Plewka wählt den Notausgang Ironie. „Hallo. Schön, dass Ihr da seid. Wir haben uns geschworen so zu spielen, als sei es das einzige Konzert dieses Jahr.“ Galgenhumoriges Gelächter.
Angestaute Energie bricht sich Bahn
In diesen zwei Stunden Live-Musik bricht sich die angestaute Energie Bahn. Ob Selig nun in Verneigung vor Led Zeppelin den „Fahrstuhl zu den Sternen“ nimmt oder ihren Hit „Die Besten“ in bluesrockende Kaskaden münden lässt.
Beide Songs stammen von ihrem Debütalbum aus dem Jahr 1994. Tiefste MTV-Ära. Und jene Crossover-Dekade, in der Selig den Grunge, Rock und Funk mit rauer Verve ins Deutsche übertrugen. Zudem eine Zeit, wie Plewka erzählt, in der man sich noch Briefe schrieb, wenn es in der Beziehung mal nicht so lief. Mehr als 25 Jahre sind vergangen. Die Selig-Anhänger im Stadtpark sind gepflegt mitgealtert. Und Schluss gemacht wird jetzt per SMS, wie Plewka in einem neuen Song verhandelt.
Mahnend zwischen Kapitalismus und Klimawandel
Die Band hat die Pandemiepause genutzt, um ihr achtes Album „Myriaden“ fertigzustellen, das im Oktober erscheinen soll. Auch die aktuelle Single „Alles ist so“ spielt Plewka gemeinsam mit Gitarrist Christian Neander, Bassist Leo Schmidthals und Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert an diesem Abend. Ein nachdenkliches Stück. Mahnend zwischen Kapitalismus und Klimawandel. Und da steht sie nun, diese zwischenzeitig ausgebrannte und zerstrittene Band, vereint in gutem Sound, in guter Chemie und miteinander angekommen in dieser merkwürdigen Gegenwart. Doch die Dramaturgie dieses besonderen Auftritts verharrt nicht im Krisenmodus.
Von den Zukunftsfragen geht es kopfüber in die Nostalgie. Und von der Sozialkritik zu Sex und Rausch. Bei einer psychedelischen Hippie-Nummer wie „Lass mich rein“ zeigt sich überdeutlich, wie sehr Selig die Abgründe und Verheißungen des Rock ‘n’ Roll mit jeder Faser und jedem Ton verkörpert. Das Konzert gerät da zum musikalischen Trip. Akkorde krachen in die Seelen. Und der Wind treibt dazu seine Böen durch die Baumwipfel, die wie Schattenrisse am dunklen Himmel tanzen. Ein sinnliches Rundumerlebnis. Ein beglückendes Getöse nach Monaten der Stille. Und eine Entgrenzung im Rahmen der Vernunft.
Konzert im Stadtpark: „Wir sind Selig. Und ihr seid es auch“
Einen feinen Kontrapunkt setzt wiederum der einzige Akustiksong, der schöne Heuler „Ohne Dich“. Ein Stück Popgeschichte, das Seligs unbedingten Mut zur Poesie zum Klingen bringt. „Ich nähte mir einen Bettbezug / Aus der Zeit, die wir hatten / Und trink’ mir alte Wunden an / So tief und allein“, intoniert die Menge textsicher im Chor. Als gelte es, reichlich Gemeinschaft zu tanken und Eindrücke zu sammeln für den Winter. Für was auch immer kommen mag. Hits wie „Ist es wichtig“ und „Wenn ich wollte“ laden den Akku zusätzlich auf.
„Wir sind Selig. Und ihr seid es auch“, ruft Plewka zum Abgang euphorisch in die Nacht, um dann mit seiner Band alsbald für zwei Zugaben zurückzukehren. „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, gefolgt von „Wir werden uns wiedersehen“. Ein gutes Motto, das die Fans nicht müde werden mitzusingen. Und dann sagt Plewka noch: „Danke für diesen wunderschönen Abend. Wir gehen mit sattem Herzen nachhause und halten das Jahr durch wegen Euch.“ Gleichfalls.