Hamburg. Benjamin Quaderer ist mit seinem Debüt „Für immer die Alpen“ für den Klaus-Michael Kühne-Preis nominiert.

Die Geschichte musste aufgeschrieben werden. Von einem Liechtensteiner. Von Benjamin Quaderer, 1989 in Österreich geboren, in Berlin lebend. Aber: Liechtensteiner. Einer der verheißungsvollsten Debütanten in diesem Jahr und deswegen auch für den im September zu vergebenden Klaus-Michael Kühne-Preis nominiert. Quaderers Roman heißt „Für immer die Alpen“. Die große, gewaltige Liechtenstein-Erzählung. Fast 600 Seiten dick.

Der Liechtensteiner, um den es in diesem Brocken geht, heißt Heinrich Kieber. Genau, der Kieber. Wegen dessen der deutsche Staat vor einigen Jahren den Post-Chef Klaus Zumwinkel am Wickel hatte. Kieber hat jene Geschichte, diese, die Quaderer in seinem Werk erzählt, bereits selbst einmal als Buch veröffentlicht. „Der Fürst. Der Dieb. Die Daten“ heißt Heinrich Kiebers Selbstzeugnis, es erschien 2010.

2008 wurde der Skandal publik

Es war ein größtenteils kruder, egozentrischer Bericht des ersten großen Datendiebs: Kieber, der in seiner Heimat Liechtenstein ein niederer Bankangestellter war, setzte die jahrelang so gemütliche, verschwiegene Steueroase, die das kleine Fürstentum stinkreich machte, in Brand, als er die elektronischen Akten vor allem auch deutscher Hinterzieher dem BND übergab. 2006 war das; 2008 wurde der Skandal publik, als Klaus Zumwinkel im Zuge der Ermittlungen verhaftet wurde.

Kieber, der an die Daten kam, weil er diese im Auftrag seines Arbeitgebers digitalisierte, ist selbst eine zwielichtige Figur. Ein Mann, der sich durchs Leben schlug, mal hier lebte, mal dort – und der vor Betrug nicht zurückschreckte. Literarische Gestalt und einen Platz in der über den Memoiren-Trash „Der Fürst. Der Dieb. Die Daten“ hinausgehenden schönen Literatur hat er nun bekommen: in Form von Quaderers Roman „Für immer die Alpen“, um den es im Folgenden gehen soll.

Kaiser tritt als Ich-Erzähler im Roman auf

Erzählt wird die Lebensgeschichte Johann Kaisers, der als Kunstfigur seinem realen Vorbild Kieber, wie wir aus dessen Buch wissen, in vielem gleicht. Kaiser wächst im Waisenheim auf. Er ist clever und hat das Interesse der Landesmutter auf sich gezogen. Fürstin Gina von Liechtenstein protegiert ihn bis zu ihrem Tod, aber schon davor verliert sich der Junge in einem Netz aus Lügen.

Um der verworrenen Geschichte keine falsche Plausibilität zu geben, tritt Kaiser als Ich-Erzähler auf. Als solcher führt er den staunenden Leser über die Stationen Spanien, Südamerika und Australien bis hin zu dem Punkt, an dem Kaiser an die Steuerdateien gelangt und zum Gegenspieler des Landesvaters aufsteigt. Hans-Adam, Fürst von und zu Liechtenstein, muss wohl oder übel auf Kaisers Erpressungsversuche eingehen. Ein jahrelanges Versteckspiel, in dessen Verlauf Kaiser zwischenzeitlich ins Gefängnis muss, um erst danach als Rache „Hochverrat“ an seiner Heimat zu begehen. „Für immer die Alpen“ handelt von einem Mann, dem man nicht alles glauben muss.

„Für immer die Alpen“ ist ein smart geschriebener Roman

Ein Mann, der nicht wirklich sympathisch, der aber auch Opfer ist. Muss so einer, der von der Welt allein gelassen wurde, nicht zum Trickser werden? Wo er doch schon aus der Heimat der Trickser stammt? Johann Kaisers Heimat: elf kleine Dörfer, knapp 38.000 Einwohner. Eine einklemmte Enge zwischen Österreich und der Schweiz, die hier in manchen Schlaglichtern erhellt wird. Natürlich gilt auch der Kieber dieses Buches, der rastlose Johann Kaiser, der hier aus dem Öffentlichkeits-Off seine Erinnerungen schreibt (klar, er muss sich als per Haftbefehl Gesuchter ja verstecken), als Nestbeschmutzer und Hochverräter. Was ihm die Möglichkeit gibt, sich als Opfer zu gerieren.

„Für immer die Alpen“ ist ein flott und smart geschriebener Roman, der gerade zu Anfang schnell vorankommt. Aber dieser Text strotzt auch vor originellen formalen Einfällen – Fußnoten, Abschweifungen, typografischen Brüchen –, ist also forciert postmodern gehalten. Der Autor Quaderer hat in Wien und Hildesheim die Schriftstellerei studiert, er kennt den Kanon und die Ambition. Das macht bisweilen beim Lesen Freude, manchmal ist es aber auch ermüdend. Der Spannungsbogen erschlafft jedenfalls zum Ende hin. Und dennoch verdient dieser Roman viele Leserinnen und Leser.

Lesung auf dem Harbour Front Literaturfestival am 10.9. im Nochtspeicher, Beginn 19 Uhr.